Die Beschwerden häuften sich. An Sitas Schule, in der nepalesischen Provinz Karnali, gab es täglich welche: Über die Dalit-Kinder. Der häufigste Vorwurf lautete, dass diese das Essen anderer Schulkinder angefasst hätten – ein Sakrileg, ein Tabubruch. Denn im traditionellen Verständnis der meisten Hindus bedeutete dies, dass solche Speisen dadurch verunreinigt waren. Die Mädchen und Jungen anderer Kasten stehen der Tradition zufolge „höher“ und spirituell als „verunreinigt“ geltende Dinge dürfen sie daher nicht annehmen. Solche Speisen sollten von ihnen nicht gegessen werden, denn Dalit-Kinder gelten als unberührbar und „unrein“.
An der Diskriminierung der als „kastenlos“ geltenden und damit nahezu außerhalb der Gesellschaft stehenden Dalits hat sich seit Jahrhunderten kaum etwas geändert. Auch seit Sita vor vier Jahren ihre Arbeit als Lehrerin in der kleinen Gemeinde aufgenommen hat, beobachtet die 23-Jährige die anhaltende Diskriminierung von Mädchen und Jungen aus dieser Gemeinschaft. Sie stehen in der sozialen Hierarchie von Nepal ganz unten und sind oft ein Leben lang von Unterdrückung, Ausgrenzung und Menschenrechtsverletzungen betroffen.
Aufgrund der Beschwerden der Eltern hatte die Schule die Kinder separiert. Dalit-Kinder sollten sich fortan von den anderen Mädchen und Jungen fernhalten, nicht mehr mit ihnen spielen oder sie gar berühren. Sita blickt aus dem Klassenfenster auf die majestätischen Berge des Himalajas. Zwischen den schneebedeckten Gipfel – sozusagen auf dem „Dach der Welt“ und fernab größerer Städte – schien das für die traditionsbewusste Lehrerin eine vernünftige Reaktion zu sein.
„Natürlich hatte ich gelesen, dass Diskriminierung aufgrund der Kastenzugehörigkeit strafbar ist.“
Allmählich wuchsen allerdings bei Sita die Zweifel am diskriminierenden Umgang mit den Dalit-Kindern an ihrer Schule.
2020 hatte die Lehrerin dann die Gelegenheit, an einem fünftägigen Workshop über geschlechtergerechte Bildung teilzunehmen. Dort lernte sie neue und innovative Lehrmethoden kennen, die auch die Fragen von Armut und der Unterdrückung einer Kaste berücksichtigen. „Das half mir, mehr von Diskriminierung zu verstehen“, sagt Sita. „Ich habe gelernt, warum Themen wie Unberührbarkeit ein Hindernis in unserer Gesellschaft darstellen, warum die Diskriminierung fortbesteht und was wir dagegen tun können. Veränderungen brauchen Zeit – aber sie sind möglich.“
Im Rahmen des Projekts „Karnali Education“ organisierte Plan International Schulungen für Lehrkräfte. Denn letztere haben nicht nur die Aufgabe, den Lehrplan zu erfüllen, sondern spielen auch eine wichtige Rolle bei der Veränderung der Gesellschaft. „Mir wurde klar, dass die Schule der beste Ort ist, um die bestehenden Probleme der geschlechts- und kastenbedingten Diskriminierung und der Unberührbarkeit in der Gemeinschaft zu beenden.“
„Mir wurde klar, dass die Schule der beste Ort ist, um die Diskriminierung zu beenden.“
Für Sita bliebt es nach dem Workshop nicht nur bei leeren Worten. Sie kehrte mit den neu gewonnenen Erkenntnissen zurück an ihre Schule und stieß dort eine Diskussion im Kollegium, mit dem Schulleiter sowie den Mitgliedern des Schulverwaltungsausschusses an. Und tatsächlich wurden Verbesserungspläne geschmiedet, um die Diskriminierung von Dalit-Kindern zu beenden, deren Umsetzung der Schulverwaltungsausschuss zusagte. „Ich begann außerdem damit, die Dinge, die ich bei der Schulung über Diskriminierung gelernt hatte, im Unterricht anzuwenden und im Dorf mit der Nachbarschaft darüber zu diskutieren“, erzählt Sita.
Der Einsatz hat sich gelohnt. Rund zwei Jahre später haben die gemeinsamen Bemühungen dazu geführt, dass Unberührbarkeit in dieser Gemeinde kein Thema mehr ist. „Jetzt sitzen, essen und spielen alle Kinder zusammen“, sagt Sita stolz. Ihr zufolge stammen 60 Prozent der Schulkinder aus marginalisierten Gemeinschaften. Die positiven Veränderungen verschaffen also einer Mehrheit der Kinder zu ihrem Recht auf Bildung. „Ich hoffe, dass die Diskriminierung der Dalits nun auch in der breiteren Gesellschaft aufhört.“
Marc Tornow hat Nepal seit 1994 mehrfach bereist, dort gearbeitet und Sitas Geschichte jetzt mit Material aus dem örtlichen Plan-Büro aufgeschrieben.