„Was in der Ukraine geschieht, wird die ganze Welt betreffen“

Foto: Plan International

Drei junge Aktivistinnen aus der Ukraine berichten, wie sie den Ausbruch des Krieges persönlich wahrnahmen, welche Auswirkungen Flucht und Vertreibung auf Bildung und psychisches Wohlbefinden von jungen Frauen haben und was sie sich für die Zukunft wünschen.

Über zwei Jahre Krieg in der Ukraine – das bedeutet vier Millionen Binnenvertriebene im Land und sechs Millionen Geflüchtete in Europa. Hinter diesen Zahlen stehen Einzelschicksale. Damit sie gesehen werden, hat Plan International Deutschland in Berlin den „Adolescent Girls in Crisis Ukraine“-Report vorgestellt. Drei ukrainische Aktivistinnen berichteten vor Ort von ihren Erfahrungen. 

Fünf Frauen sitzen nebeneinander in Sesseln, neben ihnen stehen Plakate, die den Plan-Bericht Girls in Crisis bewerben
In Berlin stellte Plan International den „Adolescent Girls in Crisis Ukraine“ Bericht vor. Auf dem Panel (vlnr) Louise Allen, Head of Policy & Advocacy for the Ukraine Crisis Response, die ukrainischen Aktivistinnen Yuliya, Vlada, Anastasia und Deborah Düring, MdB und Sprecherin für Außenpolitik von Bündnis 90/Die Grünen Plan International

Plan International: Wie habt ihr persönlich die ersten Tage und Wochen des Krieges in der Ukraine erlebt?

Anastasia (26), Menschenrechtsaktivistin: Am 24. Februar 2022 war ich zu Hause, es war ein ganz normaler Tag, an dem man aufwacht und sich dessen nicht bewusst ist, dass dieser Tag alles im Leben verändern wird. An diesem Tag ging ich nicht zur Arbeit und meine Tochter ging nicht in den Kindergarten. Wir versuchten zu verstehen, was wir tun sollten. Wir verfolgten die Nachrichten aus allen Teilen der Ukraine. Es schien, als wäre nichts passiert, aber jetzt verstehe ich, dass dieser Tag der Beginn dafür war, ein Mensch zu werden, der bereit ist, für sein Land zu kämpfen. Und es geht nicht um mich, es geht um jede Ukrainer:in. 

Yuliya (26), Aktivistin und „Young Diversity Ambassador“: Ich war zu diesem Zeitpunkt an einem sicheren Ort. Meine Familie war jedoch in Charkiw. Dort gab es eine Rettungsaktion, um erst einmal die Jüngsten in Sicherheit zu bringen. Meine Schwester half vor Ort, alle Kinder zusammenzubringen. Sie war auch noch schwanger. Unsere Eltern mussten noch einen ganzen Monat in der Stadt bleiben, weil es einfach nicht genug Plätze in den Autos gab, um alle herauszubringen. Viele meiner früheren Klassenkamerad:innen leben in Charkiw, aber ich bin ehrlich gesagt nicht mutig genug, sie zu suchen und zu erfahren, was mit ihnen passiert ist.

„Ich habe meinen Rucksack mit dem Nötigsten immer bei mir. Es ist eine Art Trauma-Reaktion.“

Vlada (28), Sprachlehrerin und Aktivistin aus der Ukraine
Eine junge Frau sitzt in einem Sessel, sie hat Kopfhörer um den Hals gelegt
Vlada ist Sprachlehrerin und Tanztrainerin. Sie engagiert sich besonders für mehr Inklusion in der Ukraine Plan Internatioal

Vlada (28), Sprachlehrerin und Aktivistin: Ich komme aus dem westlichen Teil der Ukraine, meine Stadt war vergleichsweise sicher. An diesem Donnerstag wollte ich als Lehrerin an einer Sprachschule anfangen. Das Vorstellungsgespräch hatte ich erfolgreich bestanden und es sollte mein erster Arbeitstag sein. Doch die Sprachschule befindet sich ganz in der Nähe des Flughafens und musste geschlossen war. Ich bekam und verlor meine Arbeit also an ein und demselben Tag und wusste nicht, was ich tun sollte. 

Am dritten Tag nach Kriegsausbruch bekam ich ein Video von meinen Nachbarn geschickt. Sie hatten eine Person gefilmt, die auf das Dach meines Hauses gestiegen war und es mit Leuchtfarbe angemalt hatten. Solche Farbe wird verwendet, um Gebäude für zukünftige Bombardierungen zu markieren. Das war sehr beängstigend. Zum Glück ist nichts passiert, mein Haus steht noch. Wir haben damals einen kleinen Rucksack mit unseren Dokumenten, Wasser und Lebensmitteln gepackt, den wir stets griffbereit hatten und als Kopfkissen nutzten, wenn wir in die Bunker gingen. Seitdem habe ich diesen Rucksack immer bei mir. Es ist eine Art Traumareaktion.

„Junge Menschen im Ausland erleben zum Teil Bullying. Sie werden gefragt: „Warum seid ihr hier?“ Das kann sehr belastend sein.“

Anastasia (26)

Der Krieg dauert nun schon länger als zwei Jahre. Welche Herausforderungen für junge Menschen resultieren daraus? Vor allem für junge Frauen?

Anastasia: Es gibt viele Herausforderungen. Wir wissen zum Beispiel nicht, was mit den Kindern und Menschen in den besetzten Gebieten geschieht. Binnenvertriebene in Ukraine sind etwas sicherer, aber sie haben ebenfalls mit Problemen zu kämpfen. Schwierig ist es auch für junge Menschen im Ausland, die zum Teil Bullying erleben. Sie werden gefragt: „Warum seid ihr hier?“ Das kann sehr belastend sein, weil sie nicht wissen, wohin sie zurückkehren können. Das gilt vor allem für Kinder aus den östlichen und südlichen Landesteilen, deren Häuser zerstört wurden.

Yuliya: Wenn wir über Sicherheit sprechen, müssen wir auch einen intersektionellen Blickwinkel einnehmen. Junge Frauen aus der LGBT-Gemeinschaft sind aufgrund von Stigmatisierung und Vorurteilen besonders großen Risiken ausgesetzt. Manche haben keine gute Beziehung zu ihrer Familie, und das macht sie verletzlich. Aufgrund dieser Vorurteile können sie in ihrem neuen Umfeld nach der Flucht oft keine Arbeit finden. 

eine junge Frau sitzt in einem Sessel
Anastasia flüchtete nach Kriegsausbruch zunächst mit ihrer Tochter nach Belgien. Heute lebt die Menschenrechtsaktivistin in Wolodymyr Plan International

„Für junge Menschen im Ausland ist es schwierig, neue Freunde zu finden. Sie und ihre Familien müssen bei null wieder anfangen.“

Vlada (28)

Vlada: Für viele junge Menschen war es keine freiwillige Entscheidung ins Ausland zu gehen. Es war aber die einzige Möglichkeit, sicher zu sein und die Flucht half auch, die psychische Gesundheit zu verbessern. Es macht einen großen Unterschied, wenn man die Grenze überquert hat und plötzlich keine Luftsirenen mehr hört. Wenn man wieder in Gesichter von Menschen blicken kann, die sich keine Sorgen um das morgige Aufwachen machen müssen. Herausforderungen bleiben trotzdem viele: Für junge Menschen ist es schwierig, neue Freunde zu finden. Besonders im Ausland müssen sie und ihre Familien bei null wieder anfangen. Sie müssen eine neue Sprache lernen, ihre Zeugnisse und Diplome nachholen und neue Arbeitgeber finden.

Ein anderes wichtiges Thema sind Menschen mit Behinderungen. Leider bedeutet Krieg, dass Menschen verletzt werden, Behinderungen davontragen und dann Unterstützung brauchen. Das Problem gab es auch schon vor Kriegsbeginn. Es ist ein stigmatisiertes Thema. Vor allem junge Frauen mit Behinderungen sind von vielen Möglichkeiten ausgeschlossen. Unsere Städte in der Ukraine sind nicht gut für Menschen im Rollstuhl ausgestattet. Unsere Regierung will das beim Wiederaufbau unseres Landes ändern. Die Organisation, für die ich gearbeitet habe, hat ein Schulungsprogramm für den öffentlichen Nahverkehr entwickelt, damit Busfahrer Menschen mit Behinderungen den Zugang zu den Verkehrsmitteln erleichtern können.

„Je schneller diese Krise beendet wird, desto geringer ist der Preis, den wir alle zahlen müssen.“

Vlada (26)
Eine junge Frau sitzt in einem Sessel, auf ihrem Schoß liegen ein paar Zettel, die sie festhält
Yuliya arbeitet als Youth Program Officer für das ActionAid International Ukraine Emergency Response Team Plan International

Am 11. und 12. Juni wird die Ukraine-Wiederaufbaukonferenz in Berlin stattfinden. Welche Erwartungen und Wünsche habt ihr an sie?

Vlada: Ich möchte mit einem Bild antworten: Stellt euch ein Haus mit vielen schönen Zimmern vor, aber eines dieser Zimmer brennt. Was sollen die anderen in diesem Haus tun? Es ist klar: Wir brauchen alle Unterstützung, die wir bekommen können. Es ist wichtig, das Feuer zu löschen, denn sonst kann das ganze Haus Feuer fangen. Je schneller diese Krise beendet wird, desto geringer ist der Preis, den wir alle zahlen müssen.

Anastasia: Wir dürfen nicht müde werden, uns gegenseitig zu unterstützen. Der Krieg ist kein ukrainisches Problem, er ist auch kein europäisches Problem. Was in der Ukraine geschieht, wird die ganze Welt betreffen. Junge Menschen brauchen eine vielfältige und demokratische Zukunft in unserem Land.

Yuliya: Ich finde, die Gesellschaft muss mehr Vertrauen in junge Menschen und ihre Fähigkeiten haben, Dinge zu verändern. Junge Menschen werden traditionell zu wenig gehört und sollten am Wiederaufbau beteiligt werden.

Girls in Crisis-Bericht: Stimmen aus der Ukraine

Plan International führt seit 2018 eine Umfragereihe durch, um die Erfahrungen von heranwachsenden Mädchen in anhaltenden Krisen zu erfassen. Ziel ist es, besser passgenaue Maßnahmen zum Schutz von Mädchen und jungen Frauen in Krisenregionen zu entwickeln und sie in der Wahrnehmung ihrer Rechte zu stärken.

Nach Reports aus Südsudan, der Tschadsee-Region, aus Rohingya-Geflüchteten-Camps in Bangladesch und weiteren stellt der aktuelle „Mädchen in Krisen“-Bericht die Stimmen von Mädchen in der Ukraine, Polen und Rumänien in den Fokus. 

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