Einen solchen Start ins Erwachsenenleben konnte sich auch Aarati kaum vorstellen. Die heute 20-Jährige ist in einem abgelegenen Teil des nepalesischen Distrikts Baridya im Süden des Landes zu Hause – und wurde bereits als Kind zwangsverheiratet. Die Kosten für die Mitgift verleitet Eltern oftmals dazu, ihre Töchter frühzeitig zu vermählen. „Mein Traum, die Schule abzuschließen und einen guten Job zu bekommen, wurde dadurch zunichte gemacht“, erinnert sich Aarati.
Aarati lebt bei ihren Schwiegereltern, und die ganze Familie erfährt tägliche Herausforderungen. Ehemann Sunesh ist der Hauptverdiener, doch sein Einkommen reicht nicht aus, um neben dem jungen Paar auch die jüngeren Geschwister zu ernähren. Die Familie bewirtschaftet zwar ein kleines Stück Land, aber wegen des Mangels an Grundwasser kann sie hier kaum Überschüsse produzieren. „Es ist schwer, die Familie über die Runden zu bringen“, sagt Aarati. „Es ist ein ständiger Kampf, vor allem weil mein Mann nicht viel beitragen kann. Wir haben uns immer über Geld gestritten.“
„Es ist ein ständiger Kampf, weil mein Mann nicht viel beitragen kann.“
Als junges Mädchen hatte Aarati ihrer Tante beim Nähen zugeschaut. Letztere fertigte stets selbst die Kleider und Hosen für die Familie an, und ihre Nichte versuchte, so viel wie möglich von ihr zu lernen. Doch die Fähigkeiten des Mädchens blieben dabei auf einem niedrigen Niveau – auch, weil sie zu früh verheiratet wurde. In Südasien wurde nach UN-Angaben eine von vier Frauen vor ihrem 18. Geburtstag verheiratet oder liiert. In Nepal sowie den Ländern Bangladesch, Bhutan, Indien, den Malediven, Pakistan und Sri Lanka leben rund 290 Millionen Kinderbräute, was 45 Prozent der weltweiten Gesamtzahl entspricht. Und Aarati ist eine von ihnen.
„Ich bin Expertin im Zuschneiden und Nähen geworden.“
Als sie jedoch von einem Ausbildungskurs hörte, in dem das Schneidereihandwerk systematisch vermittelt wird, wollte sie unbedingt teilnehmen. „Ich wollte professionelle Nähtechniken erlernen und ein eigenes Geschäft gründen“, sagt Aarati. „Der dreimonatige Lehrgang hat mir geholfen, fortgeschrittene Nähtechniken zu beherrschen, und jetzt kann ich Kleidungsstücke von hoher Qualität herstellen. Ich bin Expertin im Zuschneiden und Nähen von Hemden, Hosen, Hüten, Kleidern, Blusen und Röcken geworden.“
Aarati bekam von Plan International ein Startpaket, das eine Nähmaschine und Zubehör enthielt, um ihr Geschäft in Gang zu bringen. Außerdem erhielt sie ein Darlehen von einer örtlichen Frauengenossenschaft, die Unternehmerinnen im Süden von Nepal unterstützt. Damit konnte sie ihren Laden mit den wichtigsten Dingen wie einer Theke, Kleiderständern und Stühlen ausstatten.
Schon im ersten Monat nach der Eröffnung ihres Ladens bekam Aarati viel Zuspruch. „Ich biete meiner Kundschaft eine breite Palette von Produkten an, damit hebt sich mein Geschäft auf dem Markt ab.“ Die Leute schätzen ihre gute Handwerkskunst und kommen, um nach maßgeschneiderter Kleidung zu fragen. Aaratis Fachwissen geht über das Nähen hinaus, denn sie hat inzwischen vier junge Frauen bei sich in die Lehre genommen und bringt ihnen alles bei, was sie über den Umgang mit Nadel, Faden und Zwirn weiß. „Ich teile mein Wissen nicht nur mit anderen, sondern fördere auch eine Gemeinschaft von Frauen.“
Einen Teil ihres Einkommens spart Aarati bei jener Frauensparkooperative, die sie beim Start ins Berufsleben unterstützt hatte. Die junge Unternehmerin ist außerdem auf dem besten Weg, den Kredit zurückzuzahlen, den sie für die Einrichtung ihres Geschäfts aufgenommen hatte. Mittlerweile kann sie auch einen finanziellen Beitrag für ihre Familie leisten: „Unsere Grundbedürfnisse sind jetzt gedeckt, ich kann lebenswichtige Dinge wie Salz, Öl, Gemüse oder Seife kaufen.“
„Ich habe die Verantwortung, den Kreislauf der Armut zu durchbrechen.“
Mit dem Plan-Projekt soll weit mehr als ein geregeltes Einkommen der Teilnehmerinnen bewirkt werden: nämlich auch ein Ende von Kinder- und Zwangsheirat in ihrem Lebensumfeld. Daher werden junge Menschen während ihrer Ausbildung zusätzlich über ihre sexuelle und reproduktive Gesundheit und Rechte aufgeklärt. Insbesondere Mädchen und junge Frauen sollen selbst über ihre Zukunft sowie eine mögliche Berufswahl entscheiden können. „Ich habe zwar früh geheiratet, aber jetzt die Verantwortung, meiner Familie eine bessere Zukunft zu sichern – und den Kreislauf der Armut zu durchbrechen.“
Marc Tornow hat Nepal seit 1994 mehrfach bereist, dort gearbeitet und die Geschichte von Aarati mit Material aus dem örtlichen Plan-Büro aufgeschrieben.