Seit Mercy ein kleines Kind war, hat sie ihren Eltern bei der Arbeit auf dem Hof und im Haushalt geholfen. „Meine Mutter weckte uns um fünf Uhr morgens, um Wasser oder Brennholz zu holen. Wir waren daran gewöhnt, unsere Augen gingen automatisch auf“, erinnert sich die heute 21-Jährige an ihre Kindheit in einer indigenen Berggemeinde in Chimborazo, einer Provinz in Ecuador.
Die Schule war kein glücklicher Ort für das Mädchen, da sie Mühe hatte, zu lernen. Ihre Mutter konnte selbst nicht lesen und schreiben und die anderen Kinder machten sich über Mercy lustig. Ihr Lehrer bestrafte sie obendrein mit Schlägen. Einzig ihre Tante half ihr bei den Hausaufgaben. Mercy war zehn Jahre alt, als Plan International anfing, in ihrer Gemeinde zu arbeiten, für sauberes Wasser im Dorf zu sorgen und ihre Schule mit neuen Klassenräumen, Toiletten und Unterrichtsmaterialien auszustatten. Das erleichterte das Leben der Kinder im Dorf – sie hatten nun mehr Zeit zum Lernen und Spielen, anstatt Wasser zu holen.
Zwischen Bergen und in der Regenzeit grün bewachsenen Feldern inmitten der Anden wuchs auch Evelyn auf. „Mit Lachen und Zanken erlebte ich mit meinen vier Brüdern ein gesundes, wohlbehütetes Elternhaus“, sagt Evelyn. Ihrer glücklichen Kindheit folgte aber bald eine unangenehme Wendung.
Als Angehörige der indigenen Gemeinschaft der Cañaris schätzt die heute 19-Jährige ihre kulturelle Identität der Kichwa – mit samt der traditionellen Kleidung, Sprache und Bräuche. Doch auf der Sekundarschule erlebten sie und ihre Brüder Diskriminierung – einfach, weil sie zu einer ethnischen Minderheit gehörten. „Wir wurden misshandelt, diskriminiert, schikaniert ... Ich habe sehr gelitten“, sagt Evelyn, die damals ihre ersten Erfahrungen mit Ungerechtigkeit und Ungleichheit gemacht hat.
„Wir wurden misshandelt, diskriminiert, schikaniert ... Ich habe sehr gelitten.“
Mercy, die es mit Fleiß und Ausdauer nach und nach zur Klassenbesten geschafft hatte, musste für den Besuch einer Sekundarschule ihre kleine Gemeinde verlassen und in die Stadt fahren. Dort gab es ein Gymnasium – wo sie mit neuen Problemen konfrontiert wurde. Als Angehörige einer indigenen Gemeinschaft erlebte sie oft Gewalt, Ausgrenzung und Diskriminierung durch ihre Lehrer und Mitschüler. „Ich wusste, dass sie uns nicht wie in der Grundschule schlagen würden, aber sie gaben mir schlechte Noten. In meinem ersten Jahr fiel mir Mathe schwer und ich wäre fast durchgefallen“, erzählt Mercy.
Fest entschlossen, erfolgreich zu sein, lernte Mercy fleißig und verbesserte ihre Mathekenntnisse. Jedes Hindernis motivierte sie, sich noch mehr anzustrengen. Als Plan International ein Jugendprojekt in ihrer Gemeinde ins Leben rief, lernte Mercy unter anderem, wie man einen Lebensplan erstellt. Mit 17 Jahre wurde sie selbst eine freiwillige Gemeindehelferin, unterstütze andere Patenkinder dabei, Briefe an ihre Pateneltern zu schreiben, machte mit bei Workshops zum Thema Verhütung von Teenagerschwangerschaften und arbeitete mit den örtlichen Behörden zusammen, um ein Freizeitzentrum für Kinder zu erschaffen. „Langsam lernte ich, öffentlich zu sprechen, selbstbewusster zu werden, und ich konnte meinen Oberschulabschluss machen“, sagt Mercy nicht ohne Stolz.
„Langsam lernte ich, öffentlich zu sprechen, selbstbewusster zu werden, und ich konnte meinen Oberschulabschluss machen.“
Auch Evelyn partizipierte an mehreren Plan-Projekten. Sie sagt, diese Schulungen hätten sie geprägt und ihr das Rüstzeug gegeben, um ihre Träume und Lebensziele zu verwirklichen. Sie engagiert sich mittlerweile als Vorsitzende einer örtlichen Jugendorganisation und leitet dort ein Sparprojekt. Es ermutigt junge Menschen dazu, mit Geld ordentlich zu haushalten und die Mitglieder können zinsgünstige Kredite aufnehmen, um eigene kleine Unternehmen zu gründen.
Im Rahmen eines Abkommens zwischen Plan International und einer örtlichen Universität erhielt Mercy ein Stipendium für die Aufnahme eines Studiums. Doch als die Corona-Pandemie 2020 mit Lockdown und Beschränkungen hereinbrach, wurden ihre Kurse online abgehalten – die nächste Hürde für eine junge indigene Frau ohne große finanzielle Mittel. Mit Unterstützung der Kinderrechtsorganisation erwarb sie einen Computer und bekam einen Internetzugang, sodass sie ihr Studium fortsetzen konnte.
„Mein größter Wunsch ist, dass alle Mädchen in diesem Land studieren und ihre Lebenspläne verwirklichen können, anstatt Mütter zu werden, ohne es zu wollen“, sagt Mercy. „Mein Traum ist es, die Entwicklung meiner Gemeinde zu unterstützen, damit sie zu einer gewaltfreien Zone wird, in der Gleichheit und Gerechtigkeit herrschen.“