Rüdiger, hat sich durch den Krieg in der Ukraine und unsere Nothilfe, die wir dort leisten, etwas in unserer Arbeit bezüglich humanitärer Hilfe verändert?
Rüdiger Schöch: Nicht grundsätzlich, nein. Leider sehen wir das Leid, das bewaffnete Konflikte verursachen, in ähnlicher Form auch in vielen anderen Gegenden der Welt, und immer gehören Kinder, Heranwachsende, und hier besonders Mädchen, sowie Frauen zu den am meisten betroffenen Menschen. Auch Menschen mit Behinderungen oder andere Minderheiten, seien es LGBTQIA+ Personen, ethnische Minderheiten oder andere, sind besonderen Risiken ausgesetzt. Und auch in der Ukraine und mit den geflüchteten Menschen in den Nachbarländern und in Deutschland sehen wir, dass die Schwerpunkte unserer globalen Arbeit höchst relevant sind. Hierzu zählen Faktoren wie Schutz, mentale Gesundheit und psychosoziale Unterstützung, Prävention von genderbasierter Gewalt und die Versorgung von Überlebenden solcher Gewalt. Genauso wie sexuelle und reproduktive Gesundheit und Rechte, Grundbedürfnisse wie Ernährung sowie die Sicherung von Einkommen. Aber auch die Befähigung gerade auch von jungen Menschen selber an den Entscheidungen teilzunehmen, die ihr Leben beeinflussen und Akteure in der humanitären Hilfe zu werden anstatt als passive Empfänger von Hilfe wahrgenommen zu werden… all dies ist auch in der aktuellen Lage höchst relevant.
Ist der Ukraine-Krieg anders als andere globale Krisen und Kriege?
Rüdiger: Was anders ist, ist die Wahrnehmung in Deutschland bei unseren Unterstützer:innen, und auch wir Plan Mitarbeiter:innen in Europa fühlen uns durch die geografische Nähe auf persönlicher Ebene direkter betroffen. Dies sehen wir an der großen Solidarität mit den geflüchteten Menschen aus der Ukraine und einer großen Spendenbereitschaft für die Arbeit mit den Betroffenen. Im besten Fall kann dies zu einem besseren Verständnis für Menschen führen, die in der ganzen Welt von Konflikten und Katastrophen betroffen sind! Das ist uns sehr wichtig: Die Hilfe für Menschen, die vom Krieg in der Ukraine betroffen sind, ist im wahrsten Sinne überlebenswichtig – dadurch werden aber Krisen in anderen Ländern nicht weniger drängend - weltweit waren schon vor dem Krieg in der Ukraine 274 Millionen Menschen auf überlebenswichtige humanitäre Hilfe angewiesen.
Wie bewertest du Plans Ukraine-Nothilfe insgesamt?
Plan International war weder in der Ukraine noch in den Nachbarländern vor Februar 2022 tätig. Wir haben sehr schnell reagiert und bereits im März unsere Arbeit in Polen, Rumänien und Moldau aufgenommen und unsere Arbeit in Deutschland hochgefahren. Anfang April haben wir dann begonnen, auch unsere Arbeit in der Ukraine selbst aufzubauen. Dabei konzentrieren wir uns auf die Zusammenarbeit mit lokalen Partnern und deren Unterstützung. Das war und ist mit hohem Aufwand verbunden, aber die richtige Entscheidung, wenn man den hohen Bedarf an Unterstützung sieht.
Was waren Schwierigkeiten hierbei?
Natürlich stellt es die Organisation vor große Herausforderungen, in vier Ländern gleichzeitig aus dem Nichts eine Präsenz aufzubauen. Administrative Prozesse wie Registrierungen und Partnerprüfungen uvm. nehmen Zeit in Anspruch, sind aber wichtig, um langfristig verlässlich und qualitativ hochwertig arbeiten zu können.
Im letzten Jahr hat die Hochwasserkatastrophe in Deutschland dazu geführt, dass wir auch hierzulande erstmals Nothilfe umgesetzt haben. Wird die Nothilfe im eigenen Land bei Plan auch in Zukunft eine Rolle spielen?
Schon 2016 haben wir damit begonnen, mit geflüchteten Menschen in Deutschland zu arbeiten, mit besonderem Fokus auf den Schutz von Kindern. Dazu ist nun 2021 die Hilfe im Kontext der Hochwasserkatastrophe gekommen. Da sich die Klimakatastrophe zusehends weiter zuspitzt, werden Extremwetterereignisse mit katastrophalen Folgen auch in Deutschland vermehrt vorkommen. Daher gibt es mit Sicherheit auch in Zukunft in den Kontexten von Naturkatastrophen und Flucht und Migration großen Bedarf an Hilfe. Hier werden wir kontinuierlich aus unserer laufenden Arbeit lernen und uns weiterentwickeln.
Die Welt erlebt gerade eine Hungerkrise, wie es sie seit Jahrzehnten nicht mehr gegeben hat – rund 811 Millionen Menschen leiden derzeit unter Hunger, an Mangel- oder Unterernährung. Jennifer, welche besonderen Herausforderungen birgt die globale Hungerkrise für die humanitäre Hilfe?
Jennifer Arlt: Die wirtschaftlichen Folgen von politischen Konflikten, durch den Klimawandel verursachte Wetterextreme, und der Covid-19 Pandemie sind groß. Die Inflationsraten steigen, viele Menschen haben ihre Arbeitsstelle verloren, wichtige Ressourcen und Grundnahrungsmittel werden knapp. Natürlich hat dies auch Auswirkungen auf die humanitäre Hilfe. Vor allem der Angriff auf die Ukraine hat große Folgen für die Verfügbarkeit von Grundnahrungsmittel in vielen Ländern der Welt. Seit der Zeit der Angriffe auf die Ukraine hat das Land nur die Hälfte der Agrarwaren exportieren können, als es im Vorjahr der Fall war. Dies bedeutet nicht nur Nahrungsmittelunsicherheit in vielen Ländern weltweit, sondern auch den Untergang vieler ukrainischer Bauern, die ihre Waren verkaufen müssen, um wieder in neues Saatgut investieren zu können. Die zweite Problematik stellt die Verteuerung der Düngemittel dar. Dadurch, dass die Preise für Erdgas steigen, werden auch Düngemittel teurer, was sich langfristig auf die Weltpreise von Agrarwaren auswirken wird.
Globale Hungerkrise – das scheint so weit weg zu passieren. Inwiefern betrifft uns das hier in Deutschland?
Laut Verbraucherzentrale sind die Nahrungsmittel in Deutschland teurer geworden. Während der durchschnittliche Preisanstieg von Nahrungsmitteln zwischen 2000 und 2019 knapp unter 1,5 Prozent lag, wird ein Preisanstieg von 12,7 Prozent zwischen Juni 2021 und Juni 2022 verzeichnet. Das ist ein außergewöhnlich hoher Anstieg in den letzten Jahren. Genannte Gründe hierfür sind vielfältig und komplex. Steigende Energiepreise, Futtermittel- und Düngemittelkosten, wie auch Arbeitskräftemangel und Spekulationen mit Nahrungsmitteln wie etwa mit Weizen, Butter und Pflanzenölen spielen hier eine große Rolle.
Eine Krisenspirale, die sich gegenseitig bedingt…
Genau. Im humanitären Sektor ist das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen die Nummer eins, wenn es darum geht, Grundnahrungsmittelhilfen an Inlandsvertriebene, Geflüchtete und von Krisen betroffene Menschen zu verteilen. Das Welternährungsprogramm berichtet, dass sich aufgrund der steigenden Kosten für Agrarwaren ihre Ausgaben um ca. 71 Millionen Dollar monatlich erhöhen werden, wenn der Trend in den Preissteigerungen weiter so voranschreitet. Diese steigenden Kosten sind nicht zu tragen, und es werden Lebensmittelrationen für Menschen in Notsituationen gekürzt werden. Zusammenfassend kann ich nur betonen, dass Menschen, vor allem Frauen und junge Mädchen, darunter leiden, die eh bereits von Krisen, Hunger und schlechten Grundversorgungen betroffen sind.
„Lasst uns versuchen klimafreundlicher zu leben und auf unsere Mitmenschen Rücksicht zu nehmen.“
Wie ist es für humanitäre Helfer:innen mit diversen Ungerechtigkeiten konfrontiert zu sein? Wie hält man das aus?
Du beschreibst hier einen generellen Konflikt über Ungerechtigkeiten, der sicherlich an keinem:r Mitarbeiter:in in der humanitären Hilfe spurlos vorbei geht. Auch an mir nicht. Vor allem wird mein innerer Unmut groß, wenn die Katastrophen „menschengemacht“ sind. Und das sind sie in vielen Fällen. Ich möchte auf ein paar Beispiele eingehen: Mangelnde Gleichberechtigung und geschlechtsspezifische Gewalt sind Punkte, die gesellschaftlich verankert sind. Vor allem in Krisen nimmt geschlechtsspezifische Gewalt gegen Frauen und junge Mädchen zu, und die Folgen dieser Gewalt werden meist über Generationen weitergegeben. Eine mangelernährte schwangere Frau läuft höhere Gefahr Schwangerschafts- und Geburtskomplikationen zu erleiden, und ihr Kind kann an den Folgen ihrer Mangelernährung ebenfalls leiden. Es ist ein Kreislauf aus gesellschaftlicher Ungerechtigkeit und Gewalt. Inwieweit wollen wir patriarchische Gesellschaftsstrukturen weiter hegen und pflegen, oder besser, wann brechen wir aus und stehen auf für die Rechte von Frauen und jungen Mädchen?
Eine andere menschengemachte Krise und Ungerechtigkeit ist der Klimawandel: Die Industriestaaten, leben über ihr Maß hinaus, verschleudern knappe Ressourcen und beschleunigen dadurch den Klimawandel. Durch den Klimawandel verursachte Wetterextreme, wie Dürren, treffen uns aber nicht in dem Maße, wie sie Menschen im globalen Süden treffen. Ein aktuelles Beispiel dafür ist die verheerende Hungerkrise.
Was muss getan werden, um dagegen zu steuern?
Es muss einen Ruck durch Deutschland geben, ressourcenschonender zu leben. „Fridays for Future“ haben einen klasse Start hingelegt. Lasst uns versuchen klimafreundlicher zu leben und auf unsere Mitmenschen Rücksicht zu nehmen. Wir alle können kleine Schritte tun, um zumindest die Komponente Klimawandel und Wetterextreme abzumildern. Kleine Schritte machen einen Anfang: spare Wasser und Strom in deinem Alltag, iss weniger Fisch, Fleisch und Molkereiprodukte, ernähre dich vegetarisch oder vegan, verkauf dein Auto und steig aufs Rad. Das ist gelebter Klimaschutz und Achtsamkeit!
Rüdiger Schöch arbeitet seit über acht Jahren bei Plan International Deutschland als Teamleitung in der Programmabteilung Disaster Risk Management. Neben seiner Personalverantwortung für das Fachteam übernimmt er vor allem übergeordnete Aufgaben wie Plans Vertretung im NGO Verbund VENRO und hält den diplomatischen Draht zum BMZ und dem Auswärtigen Amt.
Jennifer Arlt arbeitet seit über vier Jahren bei Plan International Deutschland als Fachexpertin für Ernährungssicherung. Zuvor hat sie selbst ein Portfolio im Bereich Ernährungssicherung betreut und hat ihre Arbeitszeitgenutzt, um die Plan Teams im Südsudan, Zimbabwe, Sambia, Nigeria, Zentralafrikanischen Republik, Myanmar und Kambodscha von Hamburg aus, sowie auch vor Ort, zu unterstützen.