Auf der Fahrt in die Zukunft

Foto: Pramin Manandhar

Als Kind von ihren Eltern als Haussklavin verkauft, träumt die heute 31-jährige Bali von einem Job auf Nepals Landstraßen.

Die junge Nepalesin Bali teilt dasselbe Schicksal mit vielen anderen Jugendlichen aus ihrer Volksgruppe. Die Gemeinschaft der Tharu im Westen Nepals war lange Zeit verknüpft mit dem traditionellen System der Kamalari. Bei dieser Form der Schuldknechtschaft wurden vor allem Mädchen aus bitterarmen Familien in die häusliche Sklaverei verkauft. Die nepalesische Regierung hat das Kamalari-System im Jahr 2013 offiziell abgeschafft. Das Problem der ausbeuterischen Kinderarbeit ist in dem Himalaja-Staat damit zwar nicht beendet, wohl aber die sogenannten Kamalari-Kontrakte, wonach ein Kind auf ein ganzes Jahr hinaus an fremde Familien „verkauft“ worden ist.

„Als Kamalari musste ich frühmorgens aufstehen und die Arbeit begann.“

Bali (31), Tharu-Frau aus dem Südwesten Nepals

Der „Lohn“ für die Dienste einer Kamalari, einer „hart arbeitenden Frau“, bewegte sich in minimaler Höhe zwischen 60 und 90 US-Dollar. Pro Jahr. Oder eine reiche Familie stellte im Gegenzug für die Versklavung eines jungen Mädchens seinen Eltern ein kleines Stück Land zur Verfügung, wie im Fall von Bali.

Ein lachendes Mädchen mit bunten Gewändern und Silberschmuck
Ein Mädchen in traditionellen Tharu-Gewändern Plan International
Ein kleines Mädchen sitzt schüchtern
Ein Projekt von Plan International bewahrte 2008 die damals achtjährige Savina davor, als Kamalari verkauft zu werden Alf Berg

Putzen, kochen, waschen, das Haus hüten – ein Leben voller Arbeit

Bali war gerade sechs Jahre alt und in ihrem ersten Schuljahr, als ihre Eltern sie in einen fremden Haushalt schickten. Sie sollte dort als Hausangestellte arbeiten. „Ich hatte keine Ahnung, was das bedeutete, aber im Gegenzug stellte mein neuer Herr meinen Eltern ein Stück Ackerland zur Verfügung“, erzählt die heute 31-Jährige. „Als Kamalari musste ich frühmorgens aufstehen und die Arbeit begann. Ich ging in den Wald, um Gras für die Tiere zu sammeln, ich bereitete das Mittagessen für alle im Haus meiner Gastfamilie zu. Aber ich war froh, als sie mir erlaubten, zur Schule zu gehen.“

„Abends hatte ich keine Zeit, um richtig zu lernen. Ich musste rund um die Uhr arbeiten.“

Bali (31), mit sechs Jahren als Haussklavin verkauft

Einen Schulbesuch ermöglichten seinerzeit nicht viele der sogenannten „Landlords“ ihren Haussklavinnen. Bali sagt, dass sie zur Schule durfte, aber dennoch traurig gewesen sei, wenn sie andere Mädchen sah: „Sie hatten ihre Freiheit und konnten essen, was sie wollten.“ Als Kamalari musste Bali dagegen warten, bis alle anderen im Haus fertig waren – erst dann durfte sie die Reste essen. Sie bekam einmal im Jahr ein paar Kleider geschenkt. „Abends hatte ich keine Zeit, um meine Hausaufgaben zu erledigen oder richtig zu lernen. Ich musste rund um die Uhr arbeiten“, erinnert sich Bali an ihre Kindheit. „Ich durfte meine Eltern nicht treffen, nur an Feiertagen.“

Ein Mädchen serviert Reis
Als Kind diente Geeta - ähnlich wie Bali - jahrelang als Kamalari und wurde nach ihrer Befreiung Restaurantbetreiberin Alf Berg
Kinder halten Plakate
Im Südwesten Nepals hat sich Plan International jahrelang für die Abschaffung der Kamalari-Leibeigenschaft stark gemacht und unter anderem Demonstrationen für die Einhaltung der Kinderrechte organisiert Plan International

Eine Braut mit 14 – die vermeintliche Rettung

Nach sechs Jahren beschlossen Balis Eltern, ihre Tochter nach Hause zu holen. Balis Freude über diese Rückkehr währte jedoch nur kurz, denn fortan sollte die mittlerweile Zwölfjährige dort alle Haushaltsarbeiten erledigen. „Ich kam zu Hause nicht zur Ruhe“, sagt sie. Bali fühlte sich einsam, unversorgt und suchte nach jemandem, der sie verstand. Schließlich lernte sie einen fünf Jahre älteren Jungen kennen und beschloss, ihn zu heiraten und riss von zu Hause aus. Bali war gerade 14 Jahre alt, als sie zur Braut wurde und brachte ein Jahr später ihre Tochter zur Welt.

„Ich musste die gesamte Arbeit im Haus meines Mannes erledigen.“

Bali (31), mit 14 verheiratete Tharu-Frau

Das alles passte ihren Eltern überhaupt nicht. Sie waren wütend, dass ihre Tochter hinter ihrem Rücken geheiratet hatte, und weigerten sich jahrelang, überhaupt mit ihr zu sprechen. Mit ihrer Ehe stand es indessen auch nicht zum Besten. Balis Schwiegereltern mochten das Mädchen nicht, und wieder einmal wurde von ihr erwartet, dass sie die gesamte Hausarbeit erledigte. „Es war eine 19-köpfige Familie, um die ich mich kümmern musste. Auch als ich schwanger war, musste ich die gesamte Arbeit im Haus meines Mannes erledigen, jedes Mal für 19 Leute kochen.“

Zwei Frauen sitzen am Schreibtisch
Als ehemaliges Kamalari-Mädchen bekommt die heute 31-jährige Bali eine Berufsausbilgung Pramin Manandhar

Obwohl es Bali nach ihrer Hochzeit gelungen war, weiterhin am Unterreicht teilzunehmen, musste sie die Schule schließlich vorzeitig abbrechen, als sie schwanger geworden war. „Ich bereitete mich auf meine Prüfung für die 8. Klasse vor – und war im achten Monat schwanger. Ich wollte mein Studium nicht aufgeben, aber ich war dazu gezwungen.“

Erschöpft von den sprichwörtlich endlosen Aufgaben, die ihr übertragen wurden, litt Balis Gesundheit. „Meine Schwangerschaft war nicht gut und mein Baby untergewichtig. Nach der Geburt hatte ich keine Ruhe, keine gute Hygiene und keine gute Nahrung. Später wurde bei mir eine geschwollene Gebärmutter diagnostiziert“, erinnert sich die junge Frau.

Eine Frau notiert ihren Namen
Bali (31) macht sich bereit für die Prüfung Pramin Manandhar
Ein Auto im Regen
Fahrübungen auf einem Schulungsgelände im Südwesten von Nepal Pramin Manandhar

Die späte Chance auf ein besseres Leben

Als Bali von einem Projekt für wirtschaftliche Förderung und junge Geschäftsideen hörte, wollte sie unbedingt mehr darüber erfahren. Plan International hatte bereits zwischen 2008 und 2019 Kamalari-Mädchen und von dieser Tradition bedrohte Kinder im Westen Nepals unterstützt. Die Kinderrechtsorganisation hatte sich zusammen mit nepalesischen Partnern für ein Ende von Sklaverei und Ausbeutung sowie für Bildungschancen der Kinder und fair bezahlte Arbeit im späteren Erwachsenenleben eingesetzt. In den Tharu- und ehemaligen Kamalari-Gemeinden werden jetzt mit Unterstützung von Plan International jungen Frauen berufliche Chancen sowie unternehmerische Ausbildungen angeboten. Dazu gehört eine technische und finanzielle Förderung der Teilnehmerinnen.

„Ich habe gelernt, Motorrad zu fahren, aber noch nie gesehen, dass Frauen große Fahrzeuge bewegen.“

Bali (31), Teilnehmerin eines Plan-Ausbildungsprojekts

Bali war eine von 170 Bewerberinnen, die Interesse an einer Tätigkeit als Fahrerin hatte. Drei von ihnen wurden ausgewählt – darunter Bali. „Autofahren hat mich schon immer fasziniert“, sagt die heute 31-Jährige. „Mit 19 Jahren habe ich gelernt, Motorrad zu fahren. In meiner Gemeinde habe ich aber noch nie gesehen, dass Frauen große Fahrzeuge bewegen. Ich kenne Fahrerinnen nur aus dem Fernsehen. Vor ein paar Jahren hörte ich auch von einer Frau, die einen Bus in Kathmandu fuhr – das hat mich inspiriert.“

Obwohl Bali inzwischen mit dem Betrieb eines kleinen Imbissladens auf einem Markt für ihr Auskommen sorgen konnte, wollte sie wie die Männer in ihrem Lebensumfeld selbst einen Lastwagen fahren. Ihr Traum: Ein fester Job bei einer Firma, die Waren ausliefert. Ein Wunsch, der anderen Menschen in ihrer Gemeinde missfiel. „Jemand schlug mir vor, ich solle an einer Ausbildung teilnehmen, die für Frauen gedacht ist. Sie schlugen vor, ich solle meinen Imbissstand weitermachen.“

Blick in den Seitenspiegel
Auf der Fahrt hat Bali (31) inzwischen alles im Blick Pramin Manandhar
Frau im Verkehrsunterricht
Zunächst eine Herausforderung für Bali: die vielen Verkehrszeichen und -regeln Pramin Manandhar

Vom Mut, sein eigenes Schicksal zu bestimmen

Erst als sie sich mit Projektverantwortlichen traf und über ihr Dilemma aussprechen konnte, fühlte sich Bali sicherer mit ihrer Entscheidung. „Während einer Fahrstunde traf ich eine Mitarbeiterin von Plan International. Sie erzählte mir von den Fahrerinnen, die für ihr Büro arbeiten und zeigte mir Bilder von den Frauen mit ihren Autos.“ Anfangs habe sie sich trotzdem Sorgen gemacht, als sie gemerkt habe, wie viele Regeln es beim Autofahren zu beachten gibt. „In meinem Dorf kennt keiner Verkehrsregeln, ich habe mich beim Motorrad fahren nie an welche gehalten“, erklärt sie. „Ich habe nicht gewusst, dass ich die ganze Theorie auswendig lernen sollte. Es dauerte zwei oder drei Tage, bis wir überhaupt ein Auto angerührt und praktische Übungen unternommen haben.“

Es kostete Bali Zeit und Geduld, bis sie den richtigen Dreh beim Fahren raushatte: „Es gibt verschiedene Spiegel, auf die ich mich während der Fahrt konzentrieren muss und diverse Verkehrsschilder. Während ich lernte, lenkte ich das Fahrzeug einige Male in die falsche Richtung und wir krachten in ein Feld. Ich dachte schon, dass dies vielleicht doch nicht mein Ding ist“, schmunzelt die wissbegierige Mutter.

Es war schließlich Balis Ehemann, der immer zu ihr gehalten hatte und sie nun ermutigte, weiter zu lernen. „Ich habe mich jeden Morgen gezwungen, zum Unterricht zu gehen.“ Bali hielt eisern durch. Insgesamt 45 Tage lang dauerte der Kurs, und mit der Zeit machten die angehende Fahrzeugführerin Fortschritte. Ihr Fahrlehrer sagt, dass sie schnell dazugelernt und die vermittelten Informationen leicht erfasst habe. Und ein Zeichen dafür, dass diese Tätigkeit eben doch „ihr Ding“ ist, verrät der Umstand, dass Bali keine einzige Unterrichtsstunde verpasst hat.

LKW im Süden Nepals
Große LKW quer durch Nepal fahren - davon träumt Bali Marc Tornow
Eine Frau sitzt am Steuer
Für die Abfahrt in den neuen Job fühlt sich Bali bereit Pramin Manandhar

Die Aussicht auf ein geregeltes Einkommen

Balis Mann ist Arbeiter und sein Gehalt reicht nicht aus, um alle Ausgaben der Familie zu decken. Ein zusätzliches Einkommen, das Bali verdienen könnte, wäre daher sehr willkommen – zumal das Paar einen Bankkredit zurückzahlen muss und Kosten für den Schulbesuch der gemeinsamen Tochter decken muss. Ihre Tochter leidet an einer Sehschwäche.

Während Bali jetzt auf ihre finale Abschlussprüfung wartet, hat sie bereits erste Kontakte zu Persönlichkeiten in ihrer Gemeinde geknüpft, die Lastwagen oder große Transporter in Nepal betreiben. „Ich bin selbstbewusst genug, um ein schweres Fahrzeug zu fahren. Ich bin jedem Mann ebenbürtig und kann tun, was Männer jeden Tag auch tun. Manchmal helfe ich ihnen bereits, Steine aus dem Fluss anderswohin zum Hausbau zu schaffen. Ich kann ihre Wagen bis zu einem bestimmten Punkt fahren, aber noch nicht auf öffentlichen Landstraßen, da ich noch keinen offiziellen Führerschein besitze.“

„Ich bin jedem Mann ebenbürtig und kann tun, was Männer jeden Tag auch tun.“

Bali (31), Teilnehmerin eines Plan-Ausbildungsprojekts

Von ihren Fähigkeiten ist Bali kurz vor dem Abschluss der Ausbildung überzeugt: „Ich glaube an mich. Ich glaube nicht an die Arbeitsteilung zwischen Männern und Frauen; dass die Hausarbeit Sache der Frauen sei und nur Männer außerhalb arbeiten können.“ Bali freut sich auf den Tag, an dem sie endlich ihren Führerschein in den Händen hält. „Ich habe mich an einige Unternehmen gewandt, die Fahrer suchen. Wenn ich meinen Führerschein habe, bin ich mir sicher, dass ich einen Job bekommen werde. Mein Traum scheint sich bald zu erfüllen.“

Marc Tornow hat Nepal seit 1994 mehrfach bereist, dort gearbeitet und Balis Geschichte mit Material aus dem örtlichen Plan-Büro aufgeschrieben.

Ihre Spende: Berufliche Zukunft und Arbeit für junge Menschen

In den ländlichen Regionen Nepals haben es junge Menschen schwer, eine Arbeit zu finden. Fehlende schulische und berufliche Bildung sind die Haupthindernisse auf dem Weg zu einer guten Arbeitsstelle. Viele Mädchen heiraten, bevor sie 18 Jahre alt sind. Sie haben anschließend kaum noch Möglichkeiten, eine Ausbildung zu machen und eigenes Geld zu verdienen. In zwei Distrikten in Ost-Nepal hat Plan International deshalb ein Projekt ins Leben gerufen, welches jungen Menschen zwischen 18 und 24 Jahren berufliche Bildung und Einkommensmöglichkeiten bietet.

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