Aicha (46) lebt mit ihrem Mann und zwei Töchtern, die sieben und zehn Jahre alt sind, in Beirut. Ihre Wohnung gehört zu den Häuserblöcken, die durch die Explosion im Hafen am 4. August 2020 schwer beschädigt wurden.
Das Unglück traf die Menschen in der libanesischen Hauptstadt besonders hart. Viele von ihnen, die sich vor der Explosion noch selbst versorgen konnten, verloren mit einem Schlag ihr Zuhause, die eigenen Geschäftsräume oder gar ihren Arbeitsplatz. Auch und gerade die Straßenzüge im industriellen Viertel nahe des Explosionszentrums bleiben von den Folgen betroffen. Hinzu kommt die Wirtschaftskrise, deren Folgen sich durch die anhaltende Covid-Pandemie noch verschärft haben.
„Ich habe zwei Bachelorabschlüsse, einen in Jura und den anderen im Fach Psychologie. Wegen der anhaltenden Krise finde ich jedoch nirgendwo Arbeit.“
„Ich habe zwei Bachelorabschlüsse, einen in Jura und den anderen im Fach Psychologie. Wegen der anhaltenden Krise finde ich jedoch nirgendwo Arbeit. Mein Mann arbeitet als Sicherheitsbeamter, aber er ist schon ein halbes Jahr vor der Explosion nicht mehr bezahlt worden“, erzählt Aicha.
Bereits vor dem Unglück lebte die Familie monatelang von Ersparnissen. Auch eine gegenseitige finanzielle Unterstützung unter Angehörigen ist nun nicht mehr denkbar – alle befinden sich in derselben Situation. Die Explosion im Stadthafen hat nun viele endgültig an ihre persönlichen und ökonomischen Grenzen gebracht.
„Während der ersten Explosion spielte eine meiner Töchter draußen im Garten mit ihrer Cousine. Ich bin sofort rausgerannt und habe sie ins Haus geholt. Als wir im Flur waren, hörten wir schon den zweiten Knall“, erinnert sich Aicha.
Durch die zweite Explosion wurde die Wohnung der Familie stark beschädigt. Die Fenster waren kaputt, einige Möbel und sogar den Herd hatte es schwer erwischt und im Haus von Aichas Bruder war sogar das Dach eingestürzt.
„Ich hatte schreckliche Angst. Der Knall war ohrenbetäubend, ich dachte zunächst, wir würden angegriffen. Als wir sahen, dass bei meinem Onkel zu Hause das Dach eingestürzt war, habe ich angefangen zu weinen. Meine Mutter hat ihn gefunden und herausgeholt, aber er hat schlimm geblutet“, erzählt Aichas zehnjährige Tochter, Lamar.
„Als wir hinaus auf die Straße gingen, habe ich das Gefühl gehabt, in einem Katastrophenfilm gelandet zu sein – oder einer dieser Reportagen über das Wüten eines Hurrikans oder Tornados. Einfach alles lag in Trümmern, ich konnte nicht verstehen, was passiert war. Was hätte auf einmal so viel Schaden anrichten können?“ erinnert sich Aicha.
Heute – Monate nach dem Unglück – kämpft die Familie noch immer gegen die vielen Krisen an, die den Libanon und auch die Stadt Beirut fest im Griff haben. Aicha sagt, dass sie sich verändert hat: Früher war sie eine Perfektionistin, heute hat sie keinen Raum mehr für Perfektionismus und erledigt ihren kompletten Alltag im Überlebensmodus.
„Ich tue alles was nötig ist, um meine Kinder gut durch diese Zeit zu bringen.“
„Ich tue alles was nötig ist, um meine Kinder gut durch diese Zeit zu bringen“, sagt sie. Hilfen wie die von Plan International verteilten Essenspakete, Hygiene-Sets und Menstruationsprodukte bedeuten zwar eine Erleichterung im Alltag, doch wenn Aicha an die Zukunft denkt, dann tun sich große Fragen auf.
„Es sieht momentan nicht danach aus, dass die Schulen bald wieder aufmachen. Das Coronavirus hat den Libanon weiterhin fest im Griff. Es gibt zwar Online-Unterricht doch wie sollen meine Töchter daran teilnehmen, wenn wir kein Internet bekommen können?“ fragt sie.
Ihre Tochter Lamar hält währenddessen an ihren Plänen fest: „Ich freue mich sehr darauf, dass die Schulen irgendwann wieder öffnen. Vor dem Lockdown war ich sehr gut in den naturwissenschaftlichen Fächern, vor allem Biologie. Wenn ich groß bin, möchte ich Ärztin werden.“