Wenn Vlada einen Raum betritt, dann scheint es heller zu werden. Die 14-Jährige sucht Augenkontakt, ihr Lächeln ist ansteckend. Mit kleinen Gesten bezeugt sie ihrem Gegenüber Sympathie. Welch eine Gabe, Menschen dazu zu bringen, sich wohlzufühlen. Dass sie seit ihrer Geburt infolge eines Sauerstoffmangels mit mehreren Behinderungen lebt und eine traumatische Flucht vor dem Krieg aus der Ukraine hinter sich hat – all das tritt bei der Begegnung mit Vlada für einen Augenblick in den Hintergrund. Hier bei Patchwork, einem Verein, der sich im polnischen Krakau für aus der Ukraine geflüchtete Kinder mit Behinderungen und ihre Familien engagiert, hat sie einen Wohlfühlort für sich gefunden.
„Die Ärzte haben anfangs gesagt, sie werde niemals laufen können“, sagt ihre Mutter Jana Khomenko (38). Weit gefehlt. „Aber Vlada ist eine Kämpferin“, sagt ihre Mutter und ergänzt: „Heute kann sie ihre Knöpfe selbstständig öffnen und schließen. Die Menschen bei Patchwork haben sie so großartig unterstützt.“ Mehrmals in der Woche besucht Vlada die Physiotherapiesitzungen in dem Verein. Dafür nehmen Tochter und Mutter den etwa 40 Kilometer langen Weg von der östlich gelegenen Stadt Bochnia in Kauf. „Vlada hat weniger Schmerzen, ihre ganze Körperhaltung ist aufrechter geworden. Sie ist richtig aufgeblüht“, sagt Jana Khomenko.
„Kinder gehören im Zusammenhang mit Flucht ohnehin zu den Menschen, die am verletzlichsten und gefährdetsten sind. Das gilt umso mehr für Kinder mit Behinderungen.“
Plan International Deutschland unterstützt diese Arbeit des Vereins Patchwork finanziell im Rahmen der Ukraine-Hilfe. „Das Engagement von Patchwork passt sehr gut zu dem, was Plan International ausmacht“, sagt Katharina Witkowski, stellvertretende Abteilungsleiterin für Internationale Zusammenarbeit von Plan. „Kinder gehören im Zusammenhang mit Flucht ohnehin zu den Menschen, die am verletzlichsten und gefährdetsten sind. Das gilt umso mehr für Kinder mit Behinderungen. Und hier finden sie einen sicheren Ort, an dem sie und ihre Eltern die Unterstützung erhalten, die sie benötigen.“
Eigentlich sollte Patchwork nur ein kleines, aber professionelles Netzwerk für Migrant:innen in Krakau werden. Hier sollten Mütter sich austauschen und informieren und ihre Kinder mit Behinderungen Förderungen erhalten können. Das sei die ursprüngliche Idee gewesen, erzählt Maria Buchanowska. Die 36-Jährige ist die Vorsitzende und Mitgründerin des von fünf Frauen geführten Vereines und als Russin selbst eine Zugezogene. Sie kam mit ihrem Mann, der Ukrainer ist, bereits vor einigen Jahren wegen der politischen Umwälzungen und beruflicher Veränderungen über St. Petersburg und Kiew nach Krakau.
Als Sonderpädagogin, die seit 16 Jahren mit Kindern mit Behinderungen arbeitet, erkannte sie dort schnell den Bedarf für entsprechende Familien. Behinderungen sind mit Stigmata versehen. Informationsstellen, Integrationsklassen, Therapiezentren, Hilfe bei der Bürokratie – Unterstützung überhaupt – sind Mangelware. „Als wir schließlich alle Papiere für die Anerkennung als Verein zusammenhatten, begann die russische Invasion in der Ukraine“, sagt Maria Buchanowska. Und so wurde aus einer kleinen Initiative von einem Tag auf den anderen die entscheidende Stütze für Kinder mit Behinderungen und ihre Familien aus der Ukraine in und rund um Krakau. Denn mit dem Krieg begann der Exodus aus dem Land. Laut örtlichen Schätzungen leben in Krakau rund 120.000 der insgesamt 950.000 geflüchteten Ukrainer:innen in Polen. Nach Schätzungen des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR haben etwa fünf Prozent der ukrainischen Geflüchteten im Land eine Behinderung.
Mittlerweile ist Patchwork stark gewachsen. Die 35 Angestellten und Honorarkräfte betreuen 230 ukrainische Familien in ihrer Landessprache. Zusammen sind das laut Patchwork etwa 1.500 Menschen. Viele der Beschäftigten sind selbst Geflüchtete. Sie helfen den Familien bei Behördengängen, wenn es um staatliche Beihilfen und Hilfen geht. Denn es dauert lange, bis die Familien entsprechende Bescheinigungen oder deren Übersetzungen zur Behinderung des Kindes erhalten.
Plan International Polen hat in einer Untersuchung herausgefunden, dass die wichtigsten Bedürfnisse von Kindern mit Behinderungen aus der Ukraine in Polen und ihren Eltern regelmäßiger Zugang zu fachärztlicher Betreuung und psychosozialer Unterstützung sind – in der eigenen Sprache. Danach gibt es auch Fälle von Kindern, die nach ihrer Ankunft in Polen aufgehört haben zu sprechen. Physiotherapeut Roman Kazmiruk (27) erläutert, warum: „Sie haben Schlimmes erlebt. Ich habe von so vielen furchtbaren Geschichten erfahren.“ Dies sei eine große Herausforderung bei der Arbeit mit den Kindern aus der Ukraine.
Neben den Physiotherapien gibt es bei Patchwork deshalb Reha-Kurse, Sprachtrainings, psychosoziale Unterstützung, selbst Wohnungsvermittlungen oder Erziehungshilfen für Eltern. Und wenn die sich in Gesprächsrunden über ihre Erfahrungen austauschen oder die Mütter sich zu Schminkkursen treffen, weil sie auch mal auf andere Gedanken kommen müssen und das Leben bei allem Ernst und aller Schwere auch mal bunt sein muss, dann spielen Patchwork-Mitarbeiter:innen während dieser Zeit mit den Kindern in einem der zehn Räume auf den beiden Etagen.
Die zehn Jahre alte Avelina besucht Patchwork drei Mal in der Woche. Sie kam als jüngstes von sechs Kindern auf die Welt. Auch sie lebt seit ihrer Geburt mit mehreren Behinderungen. Sie wurde mehrfach operiert, kann nicht stehen oder gar gehen. „Es hieß am Anfang, wir sollten sie in Obhut geben“, erzählt ihre Mutter Olena Myndzia (53). „Aber das kam für uns natürlich überhaupt nicht in Frage.“
Als der Krieg in der Ukraine 2022 begann, wurde auch die Heimatstadt Kaniw, etwa 150 Kilometer südlich von Kiew angegriffen. Die Familie musste Avelina zum Auto tragen. Mit ihrem 30 Jahre alten Minivan machte sich die Familie über Kiew auf den Weg nach Polen. Dort lebte bereits eine Tochter. Allein der 32 Jahre alte Sohn blieb zurück. „Wir dachten, dass wir bald wieder nach Hause zurückkehren können“, sagt Olena Myndzia. Doch nun lebt die Familie seit mehr als zwei Jahren in Polen.
Avelina gibt sich schüchtern, ist aber gewitzt und charmant. Ihre dunklen Augen leuchten hinter einer rosafarbenen Brille. Avelinas Leidenschaft für Musik hat die Leute im Verein beeindruckt. Sie liebt es, Ukulele zu spielen. Sie besucht die Mal- und Sprachkurse. Patchwork hat bei den Anträgen für Reha-Maßnahmen geholfen und einen Platz in einer Grundschule vermittelt. Avelina lernt dort neben polnisch auch Englisch. Nun suchen sie eine Integrationsklasse für sie. Im „Teenage-Club“ von Patchwork trifft sie sich mit ihren Freund:innen. Manchmal geht es ins Kino.
„Wir gehören alle zusammen. Wie die Flicken auf einer Patchwork-Decke.“
Das ist es, was Patchwork-Gründerin Maria Buchanowska meint, wenn sie von einem „ganzheitlichen Ansatz“ in ihrem Haus spricht. Viele kleine und unterschiedliche Teile führen zu einem Gesamtbild. Deshalb passt der Name Patchwork. „Auch wir, die wir alle hier im Verein arbeiten, sind alle unterschiedlich. Alter, Herkunft, Erfahrung, Ausbildung. Aber wir gehören alle zusammen. Wie die Flicken auf einer Patchwork-Decke.“