Mit Karate gegen Kinderehen

Foto: Plan International

Eine junge Frau in Bangladesch hat durch Karate die Kraft gefunden, sich für ihre Rechte einzusetzen – und gibt ihr Wissen jetzt weiter.

Gaitree war gerade zwölf Jahre alt, als ihr Vater starb. Drei Jahre später verlor sie auch ihre Mutter. „Meine Welt war plötzlich auf den Kopf gestellt“, erinnert sich die heute 24-Jährige.

Mit 15 Jahren übernahm Gaitree die Versorgerinnenrolle für sich und ihre Geschwister: „Es war nicht leicht, ihnen drei Mahlzeiten am Tag zu ermöglichen und gleichzeitig die Schulgebühren zu bezahlen.“ Sie bewirtschaftete das Stück Ackerland, das ihr Vater der Familie hinterlassen hatte – und schaffte es, trotz der großen Verantwortung, die sie trug, nebenbei weiterhin für die Schule zu lernen.

„Die Teilnahme am Karatekurs im Plan-Projekt hat mein Leben verändert.“

Gaitree, gibt Selbstverteidigungskurse für Mädchen

Als ihre Onkel versuchten, sie an einen älteren Mann zu verheiraten, widersetzte sich Gaitree. „Ich lehnte ab – meine Gedanken waren bei meinen Geschwistern und der Frage, wer sich dann um sie kümmern würde“, erzählt sie. Dass sie den Mut aufbringen konnte, bei ihren Onkeln einzufordern, ihren eigenen Weg gehen zu können, verdankt sie neben ihrer starken Willenskraft auch der Teilnahme an einem Projekt von Plan International im Jahr 2014. In dem Projekt, das Mädchen in ihrem Selbstvertrauen stärkt und ermutigt, die in der Gesellschaft verankerten Geschlechtsstereotypen infrage zu stellen, entdeckte Gaitree ihre Leidenschaft für Karate. „Das hat mein Leben verändert“, sagt die 24-Jährige. „Ich wurde sogar für einen sechsmonatigen Fortgeschrittenenkurs in Dhaka ausgewählt.“

Eine junge Frau macht Karate zwischen zwei älteren Frauen
Gaitree (M.) zeigt eine Karatepose. Plan International
Eine Frau zeigt einem Mädchen einen Karategriff
Gaitree (M.) demonstriert den Kursteilnehmerinnen einen Verteidigungsgriff. Plan International

Gemeinsam Veränderungen bewirken

Durch das Karate-Training entwickelte Gaitree immer mehr Selbstvertrauen. „Mir wurde klar, dass ich die Kraft habe, mein Leben zu verändern“, erinnert sie sich, „und, dass ich auch andere Mädchen dabei unterstützen kann.“ Als sie aus Dhaka – der Hauptstadt – zurückkam, begann Gaitree mit der Unterstützung von Plan International und ihren Lehrer:innen, Mädchen in ihrem Dorf in Selbstverteidigung zu unterrichten – damit sie sich besser vor geschlechtsspezifischer Gewalt schützen können. „Von einigen Leuten wurde ich kritisiert, aber das entmutigte mich nicht“, sagt sie. Regelmäßig werden Mädchen und junge Frauen in ländlichen Gebieten Bangladeschs auf der Straße belästigt. Auch das Risiko, die Schule abbrechen zu müssen oder früh verheiratet zu werden, ist dort groß. Daher war es Gaitrees Anliegen, mit ihren Karate-Kursen auch eine Gemeinschaft zu schaffen, in der sich Mädchen austauschen, mit- und voneinander lernen können und auf vielfältige Weise gestärkt werden. Mit dem neugewonnenen Selbstbewusstsein und dem Wissen über die eigenen Rechte setzt sich die Gruppe inzwischen auch gegen Kinderehen in ihrer Gemeinde ein.

Bangladesch zählt laut den Vereinten Nationen zu den Ländern mit der weltweit höchsten Heiratsrate von minderjährigen Mädchen: 50 Prozent der Frauen in dem südasiatischen Land, die heute in den Mittzwanzigern sind, wurden vor ihrem 18. Geburtstag verheiratet. Fast 18 Prozent von ihnen waren bei der Hochzeit jünger als 15 Jahre.

Wenn Gaitree erfährt, dass eine Minderjährige in ihrer Gemeinde verheiratet werden soll, handelt sie prompt: Die 24-Jährige spricht mit den Eltern des Mädchens und mit lokalen Behörden, um sie davon zu überzeugen, die Hochzeit nicht stattfinden zu lassen. Mit Unterstützung von Gleichgesinnten aus ihrer Karate-Gemeinschaft konnte Gaitree bisher insgesamt 34 Fälle von Frühverheiratung verhindern.

Eine Karateka trägt eine Goldmedaille und zeigt ein Peace-Zeichen
Gaitree zeigt stolz ihre Goldmedaille. Plan International

Männer spielen bei Gleichberechtigung eine wichtige Rolle

Gerade trainiert die 24-Jährige, die 2020 die Goldmedaille beim örtlichen Bangabandhu Karate-Turnier gewann und derzeit einen Master in Philosophie macht, für ihren schwarzen Gürtel. Der Traum der Karateka ist es, eines Tages eine eigene Schule für die Kampfsportart zu eröffnen. Doch viele Eltern zögern, Selbstverteidigungskurse für ihre Töchter zu bezahlen. Trotz – oder gerade wegen – der tief verwurzelten patriarchalen Traditionen und Normen, die in Bangladesch vorherrschen, sehen es viele Menschen nicht als notwendig an, dass Mädchen lernen, sich selbst zu schützen. „Ich hoffe, dass es dennoch einige Eltern gibt, die, wenn sie es können, auch für meine Kurse bezahlen“, sagt Gaitree. Für Mädchen aus ärmeren Familien möchte sie ihre Kurse aber auch weiterhin kostenlos anbieten.

„Ich war das erste Mädchen in meiner Gemeinde, das Fahrrad fuhr.“

Gaitree (24)

Die 24-Jährige ist für viele in ihrer Heimat ein Vorbild. Sie stärkt das Selbstvertrauen vieler Mädchen durch das Kampfkunsttraining – und erobert Bereiche, die für Mädchen und Frauen bisher verschlossen blieben: „Ich war die erste in meiner Gemeinde, die Fahrrad fuhr“, berichtet sie. „Mein Radfahren inspirierte andere Mädchen und jetzt benutzen die meisten ein Fahrrad, um zur Schule zu kommen.“ Aber sie möchte auch Männer mit ihrem Engagement erreichen. Denn diese, so ist Gaitree überzeugt, spielen bei der Herbeiführung von Gleichberechtigung eine wichtige Rolle.

Aktivist:innen wie Gaitree demonstrieren, was gemeinschaftliches Handeln zur Bekämpfung von geschlechtsspezifischer Gewalt und Stereotypen beitragen kann. Mit Unterstützung von Organisationen wie Plan International erhalten Mädchen weltweit praktisches Wissen, um ihre Anliegen und Themen selbst anzusprechen und Rechte einzufordern. Gaitree hat nicht nur ihre eigene frühe Ehe verhindert, sondern setzt sich auch für andere ein, denen das Schicksal einer Frühverheiratung droht – und inspiriert dabei immer mehr Mädchen und junge Frauen, sich ihr anzuschließen.

Die Geschichte wurde mit Material aus dem Plan-Büro in Bangladesch erstellt.

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