Mit Notizblock und Stift schreitet Huyen zur Tat. Zwischen den höchsten Bergen Vietnams verfolgt die gerade mal 15-jährige Schülerin ein Ziel: das Ende von Kinder- und Zwangsheirat. „Es macht mich wirklich betroffen, wenn Menschen heiraten müssen, bevor sie dazu bereit sind“, sagt Huyen. „Sie werden leider der Chance beraubt, ihr eigenes Leben zu leben.“
Huyen weiß, wovon sie spricht, denn sie wuchs im Norden des Landes in armen Verhältnissen einer ethnischen Minderheit auf. Fälle von Frühverheiratung sind auch und gerade in der abgelegenen Provinz Lai Chau verbreitet. Wie wichtig Bildung gerade für Bevölkerungsgruppen in diesem Teil Vietnams sind, wurde ihr täglich vor Augen geführt.
„Wenn junge Menschen heiraten müssen, werden sie der Chance beraubt, ihr eigenes Leben zu leben.“
Regelmäßig helfen die Töchter und Söhne im Haushalt und bei der Feldarbeit. Huyen konzentriert sich trotzdem mit voller Energie auf ihre Schulbildung. Mit Hingabe hat sie es damit zu den Besten in ihrer Klasse geschafft. Auf Bezirks- und Provinzebene hat sie sogar Auszeichnungen für ihre akademischen Leistungen erhalten.
„Im Vergleich mit vielen meiner Freundinnen, die die Schule abbrechen mussten, habe ich Glück“, erzählt Huyen. „Ihr Schicksal ist ungerecht, denn ohne Schulbildung können sie nicht die Fähigkeiten erlernen, die sie später für ihren Lebensunterhalt brauchen. Und so werden diese Mädchen weiter leiden – auch ihre Kinder.“
Der Teufelskreis der Armut, in den hier im Norden Vietnams besonders Mädchen und jungen Frauen ethnischer Minderheiten geraten, wurde Huyen bei einem Jugendtreffen erst richtig bewusst. In dem Club setzen sich Mädchen und Jungen regelmäßig zusammen, um über die Kinderrechte, Familienplanung, aber auch die Gefahren von Kinderehen und früher Mutterschaft zu diskutiert. Seit 2021 gibt es die Gruppierung „Champions of Change“, die Plan International ins Leben gerufen hat, um im besten Sinne Lebensberatung zu leisten. In den Provinzen Lai Chau und Ha Giang profitierten insgesamt 1.088 Mädchen und Jungen aus ethnischen Gemeinschaften von dem Projekt.
„Frühverheiratung führt in einen Teufelskreis, und Bildung ist die einzige Möglichkeit, ihn zu durchbrechen.“
Die „Champions des Wandels“ hatten bald erkannt, dass sie anderen Kinder bei der Bewältigung ihres Alltags behilflich sein können. „Frühverheiratung führt in einen Teufelskreis, und Bildung ist die einzige Möglichkeit, ihn zu durchbrechen“, sagt Huyen, die aufgrund ihrer Führungsqualitäten regelmäßig die Moderation von öffentlichen Veranstaltungen wie auch Treffen der Jugendgruppe übernimmt.
Wer sehr jung heiratet, verpasst nicht nur seine Kindheit, sondern allzu oft auch einen Schulabschluss. Noch schwieriger wird es für Kinder, die selbst Kinder kriegen: Neben erheblichen gesundheitlichen Problemen für Mutter und Ungeborenes begünstig eine frühe Elternschaft ebenfalls Schulabbrüche. Huyen ist der Ansicht, dass viel mehr Kinder und Jugendliche in ihrer Nachbarschaft über die schädlichen Folgen von Frühverheiratung erfahren müssen – und hat den Kampf gegen diese Tradition aufgenommen. Und den führt die engagierte Aktivistin mit öffentlicher Kommunikation, mit Notizblock und Stift.
„Es macht Spaß, mit dieser Jugendgruppe zu arbeiten, weil wir alle unsere Stärken haben.“
„Ich höre mir gerne die Geschichten anderer Menschen an“, sagt Huyen schmunzelnd. „Vielleicht ist das der Grund, warum ich gerne Interviews führe.“ Die angehende Reporterin und weitere junge Clubmitglieder gehen Fragen nach, die für sie interessant sind – etwa nach Familien- und Zukunftsplanung, dem Alltag sowie den Herausforderungen in Lai Chau. Sie üben sich in Interview-, Film- und Fototechnik. Wer ein Smartphone hat, läuft hier gerne mit. „Es macht mir wirklich Spaß, mit dieser Jugendgruppe zu arbeiten, weil wir alle unsere Stärken haben und dafür sorgen wollen, dass die Interviews gut laufen. Wenn das Team so gut zusammenarbeitet, macht mich das stolz.“
Die Themen aus dem Alltag der jungen Menschen verdienen eine sensible Herangehensweise. „Es reicht nicht, die Probleme zu kennen, man muss auch die Folgen von Frühverheiratung verstehen. Nur dann kann man andere dazu ermutigen, etwas dagegen zu unternehmen“, erklärt Huyen. Sie und ihre Reportage-Teams erkannten bald schon die Brisanz des Themas und wussten, dass sie sich die Zeit nehmen mussten, um zuzuhören und die Geschichten derer zu verstehen, die sie interviewten.
Aus den Inhalten der Gespräche, die Huyen und die Clubmitglieder geführt haben, entwickelten sie eine Reihe kreativer Medienaktivitäten an ihrer Schule. Um das Bewusstsein für das Thema Frühehe zu schärfen, entstanden Kurzfilme, Theaterstücke, Quizspiele und Malwettbewerbe. Die Jugendlichen schrieben Slogans und debattierten darüber.
„Unsere Kommunikationsaktivitäten sprechen nicht nur die Schulkinder an, sondern auch interessierte Erwachsene in der Gemeinde“, freut sich Huyen. Dadurch hätten sich bereits einige positive Veränderungen ergeben. „In den letzten drei Jahren gab es in meiner Gemeinde keine Fälle mehr, in denen Kinder wegen einer frühzeitigen Hochzeit die Schule verlassen haben“, sagt sie stolz.
„In den letzten drei Jahren hat kein Kind wegen einer frühzeitigen Hochzeit die Schule verlassen müssen.“
Tatsächlich registrieren die örtlichen Behörden einen Trend, der auch Huyen hoffnungsfroh stimmt. Demnach unterscheiden Eltern bei der Ausbildung ihrer Kinder kaum mehr zwischen Töchtern und Söhnen. Traditionell blieben in der Vergangenheit eher die Jungen länger in der Schule, während die Mädchen zur frühen Heirat oder Feldarbeit herangezogen wurden.
Jede Reise beginne mit einem ersten Schritt, das sei auch beim Thema Kinderehe so, findet Huyen. Es sei nicht schwer, sich für eine positive Veränderung einzusetzen; alle Menschen könnten dies tun. „Ich glaube, dass einfache Initiativen wie unsere Medienarbeit die Gemeinschaft dazu ermutigt, etwas zu unternehmen. Egal, ob groß oder klein: Wir kommen auf unserer Reise [gegen die Kinderehe] voran.“
Marc Tornow hat Südostasien-Wissenschaften studiert und Vietnam mehrfach besucht. Die Geschichte von Huyen wurde mit Material aus dem örtlichen Plan-Büro aufgeschrieben.