Mahelia, welche Bedeutung hat der UN-Tag der Migration?
Er schafft Aufmerksamkeit für die Bedürfnisse von geflüchteten Menschen. Die Weltgemeinschaft wird am 16. Dezember daran erinnert, dass alle Verantwortlichen humanitäre Standards für Menschen in Migrations- und Fluchtkontexten wahren müssen. Wir erleben gerade Migrationsströme, wie es sie kaum je gab: im Nahen Osten, in Afrika und auch in Lateinamerika, wo es seit Jahren zu einem Massenexodus aus Venezuela in die umliegenden Staaten kommt.
„Inzwischen gibt es sechs Millionen Menschen, die Venezuela aus Not verlassen haben.“
Wie hat sich die Flüchtlingskrise in Venezuela in der jüngsten Zeit entwickelt?
Inzwischen gibt es sechs Millionen Menschen, die Venezuela aus Not verlassen haben. Die meisten gehen nach Kolumbien, Peru und Ecuador. Dabei haben diese Länder selbst viele Probleme. Die Corona-Pandemie hat die Lage noch verschärft. Die Migrationsströme gehen deshalb in alle Richtungen. Viele Venezolaner:innen flüchten, andere versuchen, in ihr Land zurückzukehren, weil sie erleben, dass es in den Nachbarländern keine Perspektiven gibt. Während des Lockdowns haben sie keine Chance auf einen Job. Ohne Geld können sie kein Essen kaufen und keine Wohnung finden. Deshalb ist der letzte Weg manchmal, nach langen Irrungen nach Venezuela zurückzugehen, wo es wenigstens ein paar Verwandte und ein Dach über dem Kopf gibt.
Wie versuchen denn die aufnehmenden Länder, diese komplexe Situation in den Griff zu bekommen und welche Auswirkungen hat das auf die Lage der Geflüchteten?
Im Frühjahr haben Peru und Ecuador ihre Grenzen zur Pandemieeindämmung über Wochen geschlossen und militärisch abgesichert, mit verheerenden Auswirkungen. Tausende Venezolaner:innen strandeten an den Grenzübergängen, mussten mit ihren Kindern unter freiem Himmel ausharren, ohne Essen, ohne medizinische Versorgung und in der Kälte. Den Regierungen ging es zum Teil nur darum, sie aus dem Blickfeld zu bekommen. So wurden viele Venezolaner:innen an diesen Grenzorten einfach ins Nirwana geschickt. Manche haben sich erneut auf den Weg gemacht, um über illegale Grenzen einzureisen. Das ist sehr gefährlich. Überall gibt es Schlepperbanden, Drogenkriminalität, und das Risiko für Frauen, Opfer sexueller Übergriffe zu werden, ist enorm. Wir von Plan mussten unsere humanitäre Hilfe dieser neuen Notlage anpassen.
„Wir von Plan mussten unsere humanitäre Hilfe dieser neuen Notlage anpassen.“
Was tut Plan für diese Gestrandeten?
Wir haben unsere Verteilungen von Hilfsgütern und Bargeld an den peruanischen und ecuadorianischen Grenzübergängen aufgestockt, um die Menschen mit dem Allernötigsten zu versorgen und das Leid zu lindern. Bargeldverteilungen haben den Vorteil, dass die Geflüchteten individuell entscheiden können, was sie brauchen. Die einen benötigen Geld, um sich ein paar Tage in einem Hostel einzuquartieren, andere Lebensmittel, Windeln für die Kinder, wieder andere medizinische Hilfe. Zudem haben wir Lebensmittel, Hygienesets, Gutscheine für medizinische Behandlungen und Menstruationsprodukte verteilt. Letzteres ist eine wichtige Hilfe für Mädchen und Frauen, die auf der Flucht große Mühe haben, sich während ihrer Periode zu versorgen.
Ist die Lage in Kolumbien besser? Dort gewährt die Regierung den Venezolaner:innen immerhin zum Teil eine befristete Aufenthaltsgenehmigung.
Wir erkennen diesen politischen Schritt auf jeden Fall an und begrüßen ihn. Viele venezolanische Geflüchtete bekommen einen legalen Status im Land, der die Voraussetzung dafür ist, dass sie Anspruch auf Basisdienstleistungen wie Bildung oder Versorgung im Krankheitsfall haben. Dennoch sind die Kapazitäten im Land begrenzt, und es ist ungewiss, wie das Leben der Geflüchteten in Kolumbien weitergehen und ob eine wirkliche Integration stattfinden wird. Das müssen wir abwarten, um zu sehen, ob in der Praxis nicht doch alles beim Alten bleibt.
„Viele fliehen zu Fuß. Solche Familien sind schwer zu erreichen.“
Wie wirkt sich die Corona-Pandemie auf Plans Arbeit in diesem Projekt aus? Kann man die Menschen überhaupt längerfristig erreichen?
Die größte Herausforderung besteht darin, Maßnahmen in Präsenz durchzuführen. Trainings, Infoveranstaltungen und Workshops zu sexuellen und reproduktiven Rechten und Gesundheit, zum Kinderschutz oder anderen wichtigen Themen sind in Pandemiezeiten schwerer umzusetzen. Wir wollen unsere Projektteams wie auch die Hilfesuchenden auf keinen Fall gefährden. Es muss also fast alles digital stattfinden. In Kolumbien funktioniert das nur eingeschränkt. Dort kommen vor allem Durchgangsflüchtlinge an, sogenannte „caminantes“, die zu Fuß oder mit dem Bus weiter nach Ecuador oder Peru wollen. Solche Familien zu erreichen, ist schwierig.
Sie haben oft nur ein Handy für die ganze Familie, kein WLAN und kaum mobile Daten, die sie zudem für andere Zwecke brauchen. Um zum Beispiel Wege zu recherchieren. In Kolumbien mussten wir trotz Pandemie viel in Präsenz arbeiten. Wir haben die Workshops mit deutlich weniger Teilnehmer:innen und in größeren Räumen veranstaltet. In Peru und Ecuador ist das anders. Dort gibt es Geflüchtete, die an ihrem Ziel angekommen sind und somit auch für uns erreichbar sind. Sie haben schon eine behelfsmäßige Unterkunft und manchmal sogar auch stabiles WLAN.
Wie gestaltet sich dort denn das Zusammenleben zwischen Geflüchteten und Einheimischen? Gibt es Konflikte?
Ja, die Fremdenfeindlichkeit hat leider im vergangenen Jahr sehr stark zugenommen, besonders in Ecuador und Peru und gefährdet unsere Projekte. In beiden Ländern gab es 2021 Wahlen, und die Kandidat:innen haben zum Teil aggressive Wahlkampagnen gemacht und mit dem Leid der Migrant:innen gespielt. Zum Beispiel wurden Fotos vom Elend der Geflüchteten gezeigt und dann propagiert: „Wenn ihr mich wählt, dann endet ihr nicht wie diese Menschen“. Das war Wahlkampf auf unterstem Niveau.
Das Problem ist, dass Einheimische natürlich auch unter Armut und Einschränkungen durch Corona leiden und den Geflüchteten dann die Hilfe neiden. Unsere Projektteilnehmenden und sogar unsere Plan-Mitarbeiter:innen wurden deshalb bedroht und sogar körperlich angegriffen von Menschen, die sich benachteiligt fühlten. Dabei arbeiten wir immer eng mit den Aufnahmegemeinden, aber natürlich können wir nicht jede einzelne Person berücksichtigen. In Peru mussten wir unser Büro in der Grenzstadt Tumbes sogar in einen anderen Stadtteil verlegen. Verteilungen mussten unter Polizeischutz stattfinden, weil sich das so zuspitzte. Wir haben unsere Maßnahmen für eine bessere Integration dort aufgestockt und viele gemeinsame Aktivitäten organisiert. Da werden zum Beispiel gemeinsam Sportplätze und Parks instandgesetzt, was hilft, um sich kennenzulernen und Vorurteile abzubauen.
Was wünscht du dir in Bezug auf die venezolanische Flüchtlingskrise?
Das Schicksal der Geflüchteten findet viel zu wenig Gehör in den Medien und in der Öffentlichkeit. Kinder sind die verletzlichsten Geflüchteten in der Venezuelakrise. Sie haben das gleiche Recht auf Schutz, Bildung und Entwicklung, wie andere Kinder auch. Ich wünsche mir so sehr, dass vor allem diese Kinder nicht vergessen werden.