Der Wind treibt kleine Äste und Laub über sandige Wege, es sieht nach Regen aus. Die großen Entfernungen zwischen den Dörfern von Kasungu lassen diesen Bezirk ländlich erscheinen. 1.200 Meter hoch liegt die Region um den gleichnamigen Nationalpark – ein Touristenmagnet, der es schon zum Drehort für Spielfilme gebracht hat. Doch die große Herausforderung für die Menschen in seiner Umgebung besteht darin, eine Gesundheitsstation zu erreichen. Vor allem für die junge Generation stellt dies eine Herausforderung dar, weil es die Wahrung ihrer sexuellen Rechte und reproduktiven Gesundheit infrage stellt.
Die 26-jährige Nester kennt sich in diesem Metier aus: „Als ich einmal eine Gemeinde besuchte, traf ich dort eine Frau, die ein Kind mit Behinderung hatte und glaubte, dass dies auf die Verwendung von Verhütungsmitteln zurückzuführen sei“, sagt die ehrenamtliche Sexualberaterin, die über solche Mythen nur den Kopf schütteln kann und als Teenagerin selbst eine schwere Zeit durchgemacht hat.
Gegen die gesellschaftlichen Tabus, die Jugendliche daran hindern, offen über Sex, Verhütung und Familienplanung zu sprechen, wenden sich die Jugendclubs in Kasungu. In acht Gemeinden wurden mit Unterstützung von Plan International welche gegründet und Nester ist seit 2014 in einem von ihnen engagiert. Die Einrichtungen informieren über Themen wie Sexualität, Familienplanung, partnerschaftliche Rechte – und vermitteln einen Zugang zu Verhütungsmitteln (Foto ganz oben). Als damals 16-Jährige nahm Nester erstmals an einem Treffen im Club teil, fasste Vertrauen zu den Menschen dort und schloss neue Freundschaften mit Gleichaltrigen. Bald schon leitete sie als Moderatorin Diskussionen mit und für Jugendliche – obwohl sie da gerade selbst Mutter geworden war.
Fast die Hälfte der Mädchen in Malawi heiraten, bevor sie 18 Jahre alt sind, und junge Menschen sind generell einem erhöhten Risiko einer HIV-Infektion ausgesetzt. Das Land im südlichen Afrika ist eines der ärmsten der Welt und rangiert laut dem Human Development Index (HDI) der Vereinten Nationen auf Platz 169 von 191 (zum Vergleich: Deutschland 9 und Österreich 25), und auch das Bildungsniveau ist dort gering.
Viele Mädchen haben nie eine Schule besucht oder sind gezwungen, die Schule vorzeitig abzubrechen, um ihre Familien zu unterstützen, arbeiten zu gehen – oder weil sie schwanger werden. Nur 52 Prozent der Frauen im Alter von 15 bis 19 Jahren in Malawi schließen die Grundschule ab. Allein im Schuljahr 2017/18 brachen 538 Mädchen im Bezirk Kasungu die Schule aufgrund einer Schwangerschaft ab. Dort nehmen nach örtlichen Erhebungen zudem nur 43 Prozent der Mädchen, Jungen und jungen Erwachsenen altersgerechte Gesundheitsdienste in Anspruch, die eine frühe oder ungewollte Elternschaft verhindern könnten.
Sex, Verhütung und Familienplanung sind schon lange keine Tabuthemen mehr für Nester, die unbeschwert Informationen darüber an junge Menschen in ihrer Gemeinde weitergibt. Bei ihren Sitzungen werden Missverständnisse etwa zum Thema Schwangerschaft ausgeräumt und auch das Thema Vergnügen kommt zur Sprache: „Ich bekomme oft Fragen gestellt wie: ,Wird mein Mann immer noch Sex mit mir haben wollen, wenn ich verhüte?‘ oder ,Was ist, wenn ich durch die Einnahme von Verhütungsmitteln ein vermindertes Gefühl habe?‘ Dagegen helfen doch Gleitmittel beim Sex“, entgegnet Nester. Zum Arbeitsbereich „sexual and reproductive health and rights“ (SRHR) gehören bei Plan International die Sexualaufklärung, Familienplanung, Vergabe von Verhütungsmitteln sowie der Kampf gegen die weibliche Genitalverstümmelung (FGM).
„Die Mütter-Sterblichkeit bei sehr jungen Frauen ist in meinem Dorf jetzt geringer als früher.“
Neben der Aufklärung zu grundlegenden Fragen der Sexualerziehung geht es ihr und den übrigen Fachleuten darum, das Bewusstsein von Eltern sowie der Gemeinschaft für sensible Themen wie Mutterschaft und Familienplanung zu schärfen. Gehör finden regelmäßig die öffentlichen Theateraufführungen, die die Mitglieder des Jugendclubs zu diesen Fragen inszenieren. Und: „Ich habe Tausende von Verhütungsmitteln an Mädchen und Frauen verteilt. Durch bewusste Mutterschaft können sie ihr volles Potenzial entfalten und außerdem ist die Müttersterblichkeitsrate bei sehr jungen Frauen in meinem Dorf jetzt geringer als früher“, sagt Nester. Die Frauen in der zentral-malawischen Region Kasungu bringen im Durchschnitt etwa sieben Kinder zur Welt und zehn Prozent der Frauen werden verheiratet, bevor sie 15 Jahre alt sind.
Zuvor hatte Nester als eine von insgesamt 16 Teilnehmerinnen einen zweiwöchigen Intensivkurs besucht, der von qualifiziertem Gesundheitspersonal geleitet wurde und Teil des Plan-Projekts war. Die Schulung deckte alle möglichen Themen im Zusammenhang mit einer Sexualberatung ab – einschließlich grundlegender Physiologie, Verständnis für die Praxis und Anwendung verschiedener Verhütungsmethoden, ihrer jeweiligen Vor- und Nachteile, wirksamer Kommunikation mit den Menschen in der Gemeinde bis hin zur Aktenführung, Durchführung von körperlichen Untersuchungen sowie im Bedarfsfall der Überweisung an andere Gesundheitsdienste. „Ich fand die Schulung toll“, sagt Nester und strahlt. „Sie hat mich auch gelehrt, niemanden zu diskriminieren und Menschen mit Behinderungen zu berücksichtigen.“
Seit 2017 kooperiert Nester mit einem örtlichen Gesundheitsposten – ein Angebot, das weit über die ursprünglichen Aktivitäten eines Jugendclubs hinausgeht. Als sogenannte „Jugend-Vertriebsbeauftragte der Gemeinde“ unterstützt sie die Vergabe von Verhütungsmitteln. Inzwischen ist sie aus dem Jugendclubalter herausgewachsen, aber immer noch für die Jüngeren in ihrer Gemeinde da. Die Clubmitglieder, die in der Einrichtung gemeinsam ihre Freizeit verbringen, diskutieren, sich informieren oder auch ein gemeinsames Fußballspiel auf die Beine stellen, kommen oft zu ihr. Nester bietet vertrauliche Beratungsgespräche in ihrem Haus an. Zu ihrer regelmäßigen Klientel zählen etwa 25 Personen.
„Ich bin oft die erste Person, der sich die Menschen anvertrauen.“
„Ich bin oft die erste Person, der sich die Menschen anvertrauen“, erzählt Nester. „Manchmal suchen mich Jungs auf, weil sie zum Beispiel bei sich Beschwerden im Intimbereich feststellen – und ich überweise sie zur Untersuchung auf Geschlechtskrankheiten an eine Klinik. Mädchen haben Probleme mit ihrer Regelblutung, und ich kann sie über die Einnahme und Wirkung von Verhütungsmitteln beraten – und so weiter.“
Im Rahmen ihrer ehrenamtlichen Arbeit räumt Nester auch mit verbreiteten Mythen auf, wie jenem von dem Kind, dessen Behinderung vermeintlich auf die Einnahme von Verhütungsmitteln zurückzuführen sei. „Ein weiteres Märchen besagt, dass der Gebrauch von Verhütungsmitteln zu Unfruchtbarkeit führen könne“, erzählt Sexualberaterin Nester, die keine leichte Jugend hatte.
Als ihre Mutter verstarb, hatte sie einen zwei Jahre älteren Freund, der sich fortan um sie kümmerte. Die Beziehung führte jedoch zu einer ungewollten Schwangerschaft. Nester zog daraufhin zur neuen Familie ihres leiblichen Vaters. Der Umzug, das neue Zuhause und der Neuanfang als junge Mutter – all das war für sie nicht einfach. Bilder und Briefe, die in Nesters kleinem Haus hängen, erinnern sie daran und ermutigen sie zugleich, die Teenager von heute vor den Folgen ungewollter Schwangerschaft zu bewahren.
Das Haus, in dem auch die privaten Konsultationen stattfinden, hat die junge Mutter aus eigener Anstrengung errichtet. Die kleine Pacht für das Grundstück verdient sie als Tagelöhnerin in der Landwirtschaft sowie als Erzieherin in einer Kindertagesstätte. Ihr Engagement für die Wahrung sexueller und reproduktiver Rechte junger Menschen bleibt daneben freiwillig.
Aufbauend auf den Erfolgen der bisherigen Arbeit für sexuelle und reproduktive Gesundheit und Rechte startete Plan International Malawi 2019 ein weiteres diesbezügliches Vorhaben: In Zusammenarbeit mit lokalen Behörden sollen binnen fünf Jahren über 80.000 Jugendliche und junge Erwachsene im Alter von zehn bis 24 Jahren erreicht werden, davon rund 5.800 Patenkinder.
„Ich trage dazu bei, das Bevölkerungswachstum und die Müttersterblichkeit zu verringern.“
An drei Tagen im Monat ist Nester mit ihrem Fahrrad in der Region unterwegs. Auf sandigen Wegen radelt sie heute zu einer jungen Familie, die sechs Kilometer entfernt wohnt und nicht selbst zu einer Beratung kommen kann. Das Ziel in der Nähe des Kasungu-Nationalparks ist fast erreicht, als dicke Regentropfen vom Himmel fallen. Wie silberne Kugeln platzen sie auf Nesters Bluse auf, Wind frischt auf. Zur Begrüßung erwarten sie Esnart und Wilson, beide Anfang dreißig mitsamt ihren vier Kindern. Mutter Esnart leidet unter starken Regelblutungen. Nester sieht jetzt nach ihr und ermutigt sie, künftig die Pille zu nehmen, um ihre Menstruation besser zu regulieren.
Zu ihrer früheren Jugendgruppe hat Nester auch noch Kontakt. Unter anderem trifft sie sich regelmäßig mit zwei Frauen, die im Rahmen des Projekts gemeinsam mit ihr den Intensivkurs besucht haben. „Ich habe das Gefühl, dass ich unsere nationale Entwicklung unterstütze. Ich trage dazu bei, das Bevölkerungswachstum und die Müttersterblichkeit zu verringern“, sagt Nester.
Die Geschichte von Nester wurde mit Material aus dem malawischen Plan-Büro aufgeschrieben.