„Es war keine einfache Reise”, erzählt Astrid. „Ich bin vorher noch nie in ein anderes Land gereist.” Ihre erste Erfahrung in Peru machte sie in der Grenzstadt Tumbes. „Als ich aus dem Bus stieg, sah ich viele Menschen, die uns Essen und andere Sachen mitgebracht hatten. Ich war sehr nervös und unsicher, was uns drüben erwarten würde. Diese kleinen Gesten haben mir viel bedeutet – das war nichts Selbstverständliches“, erinnert sie sich.
Astrid lebt heute mit ihrer Familie in Cusco, einer Stadt in der peruanischen Andenregion. Auch wenn die Männer zu Hause in der Überzahl sind, bestimmen doch meist die Frauen, wo es „lang geht".
„Ich komme aus einer Familie, in der es viele willensstarke und charismatische Frauen gibt, die ganz genau wissen, was sie wollen. Meine Mama Carolina ist mein größtes Vorbild, weil sie immer hart gearbeitet und nie aufgegeben hat, wenn es mal schwierig wurde. Kurz nachdem wir in Peru ankamen, hat sie die erste offizielle Vertretung für eingewanderte, geflüchtete und asylsuchende Menschen in Cusco gegründet“, erzählt Astrid.
Die Covid-19-Pandemie hat die etwa 800.000 Venezolaner:innen, die in Peru leben, zusätzlich unter Druck gesetzt. Da viele der Eingewanderten keine Arbeitserlaubnis bekommen können, sind sie auf Tätigkeiten im informellen Sektor angewiesen. Vor der Pandemie haben viele von ihnen zum Beispiel beim Verkauf von Kleinwaren auf der Straße ein kleines Einkommen erwirtschaften können. Mit den Lockdown-Bestimmungen standen dann viele dieser Familien wieder vor dem Nichts. Während der Lockdowns konnten zudem nur etwa 50 Prozent der aus Venezuela zugewanderten Kinder die Schule besuchten.
Auch Astrid und ihre Familie haben negative Erfahrungen gemacht: „Viele Familien haben keine Papiere und können ihre Kinder deswegen nicht in die Schule schicken." Auch diejenigen, die zum Unterricht gehen können, fühlten sich oft nicht willkommen.
„Schon vor der Pandemie gab es viele Menschen, die uns hier nicht haben wollten.“
„Schon vor der Pandemie gab es viele Menschen, die uns nicht hier haben wollten. Und das haben sie uns auch spüren lassen. Viele von uns Kindern, die nicht in Peru geboren sind, gehen ungern in die Schule, weil sie dort diskriminiert und gehänselt werden. Dabei ist doch eine gute Bildung das wichtigste Instrument, um uns ein gutes Leben aufzubauen. Wir können nicht einfach so hinnehmen, dass es das für uns nicht geben soll“, sagt die 15-Jährige.
Deshalb engagiert sich Astrid seit 2019 im Safe Environments Projekt von Plan International, das für Kinder und Jugendliche in ökonomischen und/oder sozialen Krisensituationen sichere Räume schaffen möchte. Besonders Mädchen, die einen Einwanderungs- oder Fluchthintergrund haben, bekommen hier die Möglichkeit, sich über ihre Rechte zu informieren und lernen, wie sie diese stärken und einfordern können.
„Ich habe an einem neunmonatigen Trainingsprogramm teilgenommen. In dieser Zeit haben wir über viele Themen gesprochen. Es gab zum Beispiel Workshops zu geschlechtsspezifischer Gewalt, Menschenrechten und reproduktiver Gesundheit. Außerdem haben wir gelernt, wie wir Fälle von Menschenhandel und Missbrauch erkennen und melden können. Mir persönlich ist es besonders wichtig, mich für mehr Geschlechtergerechtigkeit einzusetzen und etwas gegen geschlechtsspezifische Gewalt gegen Frauen und LGBTQ+-Menschen zu tun“, erzählt Astrid.
Die Situation macht besonders Mädchen und junge Frauen für Fälle von Missbrauch und geschlechtsspezifischer Gewalt angreifbar. Astrid drängt darauf, dass Bildungsinstitutionen und die Teams in Gesundheitszentren sich dieses Problems bewusst werden: „Es ist sehr wichtig, dass Schulen Vorträge zu diesen Themen abhalten und Diskussionsrunden organisieren. Kinder und Jugendliche müssen über diese Gefahren informiert werden – für ihre eigene Sicherheit, aber auch, damit die peruanischen Schulkinder verstehen, aus welchem Grund wir hierher kommen und Empathie entwickeln. Wenn diese Sensibilisierung stattfindet, können sie verstehen, dass wir hier niemanden etwas wegnehmen wollen. Wir wollen nur in Frieden leben“, sagt sie und fügt hinzu: „Gleichzeitig müssen auch die politisch Verantwortlichen aufhören, so zu tun, als gäbe es uns nicht. Es gibt doch Möglichkeiten, die Straßen für Kinder und Jugendliche sicherer zu machen. Wir müssen Gewalt verhindern.“
Für Astrid steht auf diesem Weg die aktive Einbindung der betroffenen Mädchen und Jugendlichen an erster Stelle: „Zu anderen venezolanischen Mädchen wie mir würde ich sagen, dass sie darauf bestehen sollten, dass ihre Stimmen gehört werden. Wenn wir etwas verändern wollen, müssen wir auch mitbestimmen wie dieser Wandel aussehen soll. Ich weiß, dass es Überwindung kostet, aber keine von uns steht mit diesem Gefühl allein dar", sagt sie.
„Meine Mama hat mir immer gesagt, dass ich ruhig groß träumen soll. Ich will sie stolz machen und ihrem Rat folgen“
„Wenn du wegen deines Aussehens oder deiner Herkunft gehänselt wirst, dann versuche es dir nicht zu Herzen zu nehmen und dich von diesen Menschen fernzuhalten. Sprich mit anderen darüber, was dir passiert ist, auch wenn es schwerfällt. Nur so kannst du aus dieser Situation entkommen“, lautet Astrids Rat.
Astrids Traum ist es, einmal Frauenärztin zu werden. Sie möchte für Mädchen und junge Frauen da sein und sie dabei unterstützen, selbstbestimmte Entscheidungen zu treffen. „Meine Mama hat mir immer gesagt, dass ich ruhig groß träumen soll. Ich will sie stolz machen und ihrem Rat folgen. Ich würde sehr gern in Europa studieren und einmal eine Zeit dort leben. Aber das Wichtigste ist für mich, dass ich mich weiter für die Rechte von Mädchen und Frauen einsetzen und meinen Teil zu mehr Geschlechtergerechtigkeit beitragen kann“, sagt Astrid entschlossen.