Die Nacht hat frische Kühle über das Land gebracht. Im grauen Zwielicht, das mit der Morgendämmerung die Ebenen im Nordosten Kenias erhellt, scheint der Tag Anlauf zu nehmen. „Ich wache um 4 Uhr auf, fege den Hof, wasche ab und koche Tee“, sagt Nasra, das zweite von fünf Kindern. Danach macht sie sich auf den Weg – zum zwölf Kilometer entfernten Fluss, dem Tana River im gleichnamigen Bezirk, um Wasser zu holen.
Auf dem Heimweg in ihr Dorf – noch einmal zwölf Kilometer weit – sind Nasra und ihre Freundinnen schwer beladen. Jede von ihnen transportiert täglich ein Fass mit Wasser, mal auf dem sandigen Boden rollend, mal tragend. Die Mädchen schultern die Last des Wasserholens für ihre Haushalte. Oben am Himmel steht da schon früh am Morgen die Sonne hoch – wie überall auf der Welt entlang des Äquators. Es wird sengend heiß.
„In der Schule kann ich mich kaum konzentrieren.“
Wenn Nasra zu Hause ankommt und das lebenswichtige Wasser für ihre Familie abliefert, kommt sie entweder zu spät zur Schule oder sie ist zu müde und hungrig, um dorthin zu gehen. „Meistens bekomme ich Kopfschmerzen“, erzählt sie. „In der Schule kann ich mich dann kaum konzentrieren.“
Obwohl es Nasra unter diesen Umständen schwerfällt, zur Schule zu gehen, rafft sie sich meistens doch dazu auf. Denn dies ist der einzige Ort, an dem ihr Nahrung garantiert wird. „In der Schule gibt es vormittags Brei und mittags Reis mit Bohnen. Das sind die einzigen Mahlzeiten, die ich für den Tag habe. Zu Hause gibt es nichts zu essen, dort trinken wir nur schwarzen Tee.“
„Zu Hause gibt es nichts zu essen.“
Zwischen dem 4. März und dem 24. April 2022 bleiben die Schulen in Kenia geschlossen. Und das bedeutet, dass Kinder wie Nasra dann überhaupt keinen Zugang zu Essen haben. Überall in Ostafrika stockt Plan International in seinen Partnerländern lebensrettende Programme in den Bereichen Schulspeisung, Nahrungsmittelversorgung, Ernährung und Kinderschutz auf.
„Unser ganzes Vieh ist gestorben, wir haben nichts zu essen“, beklagt Nasras Mutter Obaluli. „Die Schule war meine große Hoffnung, weil meine Kinder dort essen konnten. Jetzt weiß ich nicht, wie ich mich um sie kümmern soll.“
„Unser ganzes Vieh ist gestorben.“
Die Gemeinden im Tana River-Bezirk leiden unter akutem Wasser- und Nahrungsmittelmangel. Die extreme Dürre verwüstet weiterhin die Lebensgrundlagen der Hirten- und Bauerngemeinschaften.
Die meisten Wasserreservoirs sind bereits Anfang 2021 ausgetrocknet, und die wenigen verbleibenden Quellen, wie der zwölf Kilometer entfernte Tana Fluss, werden durch die starke Beanspruchung vieler Familien, ihrem Vieh und den Wildtieren immer stärker dezimiert. Einige Gemeinden in der Küstenregion weiter östlich sind inzwischen dazu übergegangen, Salzwasser aus Bohrlöchern zu trinken.
Obaluli ist besorgt, dass Nasra nicht in die Schule zurückkehren kann, wenn diese wieder geöffnet wird. „Von meinen fünf Kindern gehen nur Nasra und ihr Bruder zur Schule. Ich habe nicht das Geld, um die anderen zu schicken. Es kann sein, dass Nasra die Schule abbrechen muss, bis wir wieder Geld haben.“
„Meine Mutter verkauft Holzkohle, damit wir uns eine Mahlzeit leisten können. Ich helfe ihr beim Verkauf, aber an den meisten Tagen kauft niemand etwas, sodass wir hungrig schlafen gehen“, erzählt Nasra, die nachmittags eine weitere 24 Kilometer lange Strecke zum Fluss zurücklegen muss, um mehr Wasser zu holen – zum Waschen, Duschen und Kochen des Tees für den Abend und den nächsten Morgen.
In Kenia arbeitet Plan International in den Bezirken Tana River, Kilifi und Kwale daran, 4.875 Kindern an 16 Schulen eine tägliche Mahlzeit zukommen zu lassen. Außerdem unterstützen die Plan-Teams durch Wassertransporte den Zugang zu sauberem Trinkwasser. Lagertanks sowie Reinigungstabletten für Wasser werden verteilt und damit 6.000 Menschen erreicht. „Wie weit würden Sie für Wasser laufen?“, fragt einer der beteiligten Plan-Mitarbeiter rhetorisch angesichts der ausgetrockneten Erde ringsum. Mit den ausbleibenden Niederschlägen wächst dort der Bedarf an Unterstützung.
Bei dem Kinderhilfswerk laufen daher Vorbereitungen, um mehr Familien unterstützen zu können und insbesondere Mädchen vor den Auswirkungen der anhaltenden Dürre zu bewahren. „Dazu bedarf es starker Partnerschaften und gemeinsamer Anstrengungen“, sagt der Kenianer Stephen Omollo, CEO von Plan International. Die verheerende Krise in der Ukraine, die bislang eine der wichtigsten Getreidelieferanten für Afrika war, dürfe nicht zu einer weiteren Verschärfung von Hunger und Unterernährung anderswo führen.
Die Sonne hat den Zenit längst verlassen, für heute haben Nasra und ihre Freundinnen genug getan. Sie kochen eine Kanne mit Flusswasser auf – die weit und breit kostbarste Ressource in ihrem Zuhause. Mit einem Becher heißen Tee ziehen sich die Mädchen schließlich in ihre Hütten zurück, während draußen mit der Dämmerung Abkühlung naht. Der gleißende Sonnenschein wechselt abends rasch in graues Zwielicht.
Marc Tornow arbeitete 2016 in Kenia und hat Nasras Geschichte mit Material aus dem örtlichen Plan-Büro aufgeschrieben.