„Meiner Großmutter war Bildung wichtig. Sie wollte, dass ich studiere“, erinnert sich Atou*. Einen großen Teil ihrer Kindheit verbrachte sie bei ihrer geliebten Großmutter – bis diese starb und Atou mit gerade einmal elf Jahren erwachsen werden musste: Sie lebte wieder bei ihren Eltern, die mit der gesamten Familie aus Angst vor Terrorangriffen aus Nigeria nach Niger – die Heimat ihres Vaters – geflohen waren. Alles schien in Ordnung zu sein, bis Atous Vater die damals 11-Jährige eines Nachts einem Mann vorstellte. „Er rief mich und sagte mir, dass ich diesen Mann heiraten würde“, erinnert sie sich. „Ich hatte nichts dagegen, weil ich nicht verstand, was das bedeutete. Ich akzeptierte es und wagte es nicht, Fragen zu stellen.“
„Die ersten drei Monate waren ein Albtraum für mich.“
Die heute 15-Jährige hält kurz inne. Dann setzt sie ihre Geschichte fort: „Ich habe den Mann nur zweimal vor der Hochzeit gesehen. Ich wusste nicht, was mich erwartet. Ich war am Tag der Hochzeit sehr traurig und weinte, weil ich von meinen Brüdern getrennt wurde, die ich so sehr liebte und mit denen ich gern spielte.“
Atou führte keine glückliche, sondern eine gewaltsame Ehe. „Die ersten drei Monate waren ein Albtraum für mich. Es gab auch nicht genug Essen im Haus, viele Male musste ich hungrig zu Bett gehen. Mein Mann konnte mich nicht ernähren, es war meine Schwiegermutter, die sich darum kümmerte. Er hinderte mich auch daran, nach draußen zu gehen. Ich litt schweigend und wagte es nicht, es jemandem zu sagen.“
„Ich möchte wieder zur Schule gehen und lernen, damit ich meine Kinder unterstützen und ihnen eine bessere Zukunft ermöglichen kann.“
Die Situation wurde schlimmer, als Atou mit ihrem ersten Kind schwanger wurde: Eine Woche nach der Geburt warf ihr Mann sie aus dem Haus. „Unsere Familien trafen sich und mein Vater brachte mich zu ihm zurück“, erzählt die junge Mutter. Wenige Monate später wurde sie wieder schwanger – und die Situation wiederholte sich. „Diesmal holte mich meine Schwiegermutter in sein Haus zurück.“ Atou musste täglich Misshandlungen und gewaltsame Übergriffe aushalten, bis sie zum dritten Mal ein Kind auf die Welt brachte. „Diesmal warf er mich raus und befahl mir, nie wieder einen Fuß in sein Haus zu setzen“, erzählt sie. „Mein Vater war es leid und beschloss, dass ich mit ihm und meinen Kindern nach Hause zurückkehren sollte.“
Bei ihren Eltern war Atou sicher vor ihrem gewalttätigen Ehemann. Doch sie hatten nicht die Mittel, sie und ihre Kinder ausreichend zu ernähren – und so litten sie bald unter Mangelernährung. Dank eines Projekts, das Plan International mit Unterstützung des Auswärtigen Amtes (AA) in Niger umsetzen konnte, erhielt die Familie die gesundheitliche, ernährungsphysiologische und psychosoziale Unterstützung, die sie so dringend benötigte.
„Meinen Kindern geht es heute besser“, sagt die 15-Jährige. „Ich möchte wieder zur Schule gehen und lernen, damit ich meine Kinder unterstützen und ihnen eine bessere Zukunft ermöglichen kann. Es war die Unwissenheit, die mich in die Ehe führte – hätte ich schon vorher die Möglichkeit gehabt, zu lernen und zu verstehen, was das bedeutet, dann hätte ich niemals zugestimmt.“
Auf die Frage, was sie anderen Mädchen und ihren Eltern gern sagen würde, antwortet Atou: „Meine Botschaft an die Mädchen ist, sich auf ihre Bildung zu fokussieren. Denn Bildung ist wichtig. Meine Botschaft an die Eltern wäre, die Praxis der Frühverheiratung und Kinderehen zu stoppen.“
Insbesondere im Süden Nigers, wie auch in vielen anderen Ländern, in denen es Kinderehen gibt, ist Armut der Hauptgrund für die frühe Verheiratung junger Mädchen. Oft haben die Familien kaum die Mittel, alle Mitglieder sicher zu versorgen – geschweige denn, die Schulgebühren für ihre Kinder zu zahlen und ihnen durch Bildung eine (auch wirtschaftlich) bessere Zukunft zu ermöglichen. Durch eine Hochzeit erhoffen sie sich ein Leben frei von Hunger und Armut für ihre Töchter und auch für sich. In einigen Ländern zahlt die Familie des Ehemanns der Familie der Braut einen sogenannten Brautpreis – das kann Geld sein, aber auch andere wertvolle Dinge wie Vieh oder Land. Zudem sind auch tief verwurzelte Traditionen ein Grund für Kinderehen. In Niger liegt das Durchschnittsalter von Mädchen zum Zeitpunkt der Eheschließung bei 15 Jahren.
Plan International arbeitet seit über 20 Jahren in dem westafrikanischen Land, im Jahr 2021 erreichten wir mit unserer Arbeit das Umfeld von mehr als 25.000 Patenkindern und deren Familien – besonders in armen Regionen des Landes. Unser Arbeitsansatz, die kindorientierte Gemeindeentwicklung, beruht auf den Grundrechten von Kindern: das Recht auf Leben, Entwicklung, Mitwirkung und Schutz. Kindorientierte Gemeindeentwicklung bedeutet mit Kindern und für Kinder zu arbeiten. Mädchen und Jungen, Jugendliche, ihre Familien und Gemeinden sind an der Planung und Durchführung von Programmen und Projekten beteiligt, um ihre eigene Entwicklung voranzubringen.
In unserer Projektarbeit in Niger spielt neben der gesundheitlichen Unterstützung – beispielsweise gegen Mangelernährung, durch Impfkampagnen oder durch die Vermittlung von gesundheitsrelevanten Grundkenntnissen – und dem Ermöglichen einer qualitativen Bildung und beruflichen Ausbildung auch das Engagement gegen Kinderehen eine zentrale Rolle. Dazu gehört, dass wir über die Risiken dieser Tradition aufklären und uns dabei gezielt an Gemeindevorstände und religiöse Würdeträger:innen wenden. Auf Regierungsebene setzen wir uns dafür ein, dass das gesetzliche Mindestalter beim Heiraten entsprechend international getroffener Vereinbarungen landesweit erhöht wird und dass weitere Gesetze zum Schutz von Kindern vor Gewalt erlassen werden.
*Atous Name wurde zum Schutz ihrer Identität geändert. Ihre Geschichte wurde mit Material aus dem Plan-Büro in Niger erstellt.