Am östlichen Stadtrand von Pokhara baumelt eine mehrere Hundert Meter lange Hängebrücke in schwindelerregender Höhe über dem Fluss Seti. Mit jedem Schritt scheint die Konstruktion ins Schwanken zu geraten und durch metallene Sprossen fällt der Blick in die Tiefe auf die Geröllhalde im Flussbett. Bagger rotieren im Felsmassiv, und scheinbar klein wie Ameisen hantieren in der Schlucht die Arbeiter, um ein neues Staudammprojekt zwischen den Ortschaften Mesetunda und Lamgadi zu realisieren.
Inmitten all der Männer an der Baustelle im Tal des Seti gibt es eine Frau. Nach einem mehrmonatigen Lehrgang erfüllt sich Sushma hier ihren Traum: „Ich bin glücklich, dass ich Baggerfahrerin bin“, sagt die 23-Jährige. „Ich bin eine der wenigen Frauen Nepals, die einen Berufszweig gewählt hat, der von Männern dominiert wird.“
Dass es dazu kam, verdankt sie einem besonderen Ausbildungsprogramm von Plan International. Schon vor zwei Jahren hat sie daran teilgenommen, doch die Corona-Pandemie bremste einen raschen Abschluss. Nun sind alle Prüfungen erfolgreich bestanden. „Ich hatte keine Ahnung, dass auch in Nepal Frauen als Bauarbeiterinnen tätig sein und schweres Gerät bedienen können“, sagt Sushma, die sich vor ihrem Training zur Baggerfahrerin allein um den Haushalt und ihre vierjährige Tochter gekümmert hat. Zusammen mit neun anderen Frauen im Alter zwischen 18 und 24 Jahren hat sie dann an dem Qualifizierungsprogramm zum Führen eines Baggers teilgenommen. „Von uns zehn haben fünf bereits eine feste Arbeit.“
„Ich bin eine der wenigen Frauen, die einen Berufszweig gewählt hat, der von Männern dominiert wird.“
Sushma wurde im Distrikt Prabat in Zentral-Nepal geboren. Nach dem Tod ihres Vaters wurde ihr Leben schwieriger. Ihre Mutter – selbst als Saisonarbeiterin tätig – zog sie und ihre drei jüngeren Geschwister mit einem geringen Einkommen auf. Oft half das Mädchen ihrer Mutter, arbeitete auf den Feldern mit, um einen kleinen Zusatzverdienst für die Familie zu bekommen. Die angespannten Lebensverhältnisse führten dazu, dass Sushma die Schule kurz vor dem Abschluss der 12. Klasse abbrechen und Arbeit finden musste. Kurz darauf wurde sie mit einem Mann verheiratet, den ihre Familie für sie ausgesucht hatte. Ihr Mann arbeitet jetzt im Ausland und schickt Sushma jeden Monat ein wenig Geld – aber das reichte nicht aus, um alle Bedürfnisse und Ausgaben zu decken.
Sushma beschloss, selbst etwas zu verdienen, und zog mit ihrer Tochter sowie den beiden jüngeren Schwestern in die bei Touristengruppen beliebte Stadt Pokhara – in der Hoffnung, dass sie dort irgendein Auskommen haben könnten. Da die drei Schwestern jedoch über keinerlei Qualifikationen verfügten, konnte sie keine Anstellung finden. In dieser scheinbar ausweglosen Situation las Sushma eine Anzeige, in der arbeitslosen Frauen eine kostenlose Ausbildung in verschiedenen Arbeitsfeldern wie Hotelfach, Trekking, IT, Elektrik, Installation, Kaffee- und Barista-Kunst sowie Baggerführung angeboten wurde. Insgesamt 800 junge Frauen aus der Umgebung von Pokhara profitieren von dem Programm.
„Es mag sonderbar klingen, aber das war mein Kindheitstraum“, sagt Sushma und lacht. „Diese riesigen Greifarme, die in Sekundenschnelle tonnenweise Steine aufnehmen und zur Seite bewegen können, faszinierten mich schon als Mädchen. Ich musste an jeder Baustelle stehenbleiben und zugucken.“ Der Faszination folgte die Bewerbung – sie wurde zugelassen und begann bald darauf ihr Fahr- und Führungstraining.
„Es mag sonderbar klingen, aber Baggerfahrerin war mein Kindheitstraum.“
„Ich fand es damals seltsam, dass ich ausgewählt wurde, denn ich hatte noch niemals eine Baggerführerin gesehen. Ich war jedoch von der Ausbildung begeistert, da es nur sehr wenige Frauen in Baggern gibt. Außerdem hatte ich gehört, dass diese Tätigkeit im Vergleich mit anderer Arbeit gut bezahlt wird“, erzählt Sushma.
Nepal ist einer der ärmsten Staaten der Welt. Laut dem Human Development Index (HDI) der Vereinten Nationen rangiert der Himalaja-Staat auf Platz 143 von 191 – hinter Bangladesch (129) und Indien (132). Ein Fünftel der Menschen in Nepal lebt von weniger als zwei US-Dollar am Tag, 20 Prozent der Bevölkerung sind arbeitslos und weitere 70 Prozent gelten als unterbeschäftigt. Viele Familien können von ihren Löhnen kaum überleben, auch und gerade in ländlichen Gebieten wie Prabat, dem Heimatdistrikt von Sushma. Vor allem Mädchen besuchen dort selten länger als sechs Jahre die Schule und bleiben nahezu chancenlos auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt.
Mit Großprojekten wie dem Staudamm am Fluss Seti versucht Nepal eine wirtschaftliche Kehrtwende: Rund um solche Baustellen entstehen Jobs und Überschüsse bei der dort produzierten Energie sollen künftig ins benachbarte Indien sowie bis nach Bangladesch verkauft werden – Nepals südasiatische Nachbarn mit großem Strombedarf.
Noch während der ersten Ausbildungsphase erfährt Sushma die Widerrede ihrer Angehörigen – einschließlich ihres Mannes. Sie schlagen ihr vor, sich für etwas anderes zu bewerben, einer Arbeit nachzugehen, die nach traditionellem Rollenverständnis besser zu ihrem Geschlecht passe. „Ich habe gedacht: Wir sind doch alle gleich. Männer wie Frauen. Warum darf ich diesen Beruf nicht auch ausüben?“
„Ich habe gedacht: Wir sind doch alle gleich. Männer wie Frauen. Warum darf ich diesen Beruf nicht auch ausüben?“
Schließlich beginnt die Ausbildung: „Ich erinnere mich noch gut an jenen Tag, als wir erstmals auf den Bagger kletterten. Ich war ängstlich und nervös und fragte mich, wie ich so ein schweres Gerät bedienen sollte. Aber nach und nach kam die Routine. Es gab noch neun andere junge Frauen während dieser Ausbildung. Wir haben uns gegenseitig motiviert“, sagt Sushma, die ihren Träumen treugeblieben ist und dadurch nicht nur lernte, wie ein Bagger bedient wird, sondern auch, wie sie sich vor Gewalt schützen, Englisch kommunizieren, mit einem Computer umgehen und Konflikte managen kann.
Wer die junge Baggerfahrerin bei der Arbeit erleben will, muss hinaus auf die Baustellen in und um Pokhara laufen – zum Beispiel über die endlos erscheinende Hängebrücke am Seti. Den „Milch“-Fluss, der vielen Hindus in diesem Land heilig ist und der aus dem Gebirgsmassiv des nepalesischen Himalajas bis hinunter in den Ganges ins benachbarte Indien fließt.
„Frauen sollten die gleichen Beschäftigungs-möglichkeiten erhalten, wie Männer.“
„Frauen sollten die gleichen Beschäftigungsmöglichkeiten erhalten, wie ihre männlichen Kollegen. In Nepal hat die Regierung Maßnahmen zur Gleichstellung der Geschlechter beschlossen, die jedoch nur langsam umgesetzt werden. Organisationen wie Plan International sollten sich bitte weiterhin für gleiche Chancen und Löhne in allen Sektoren einsetzen“, meint Sushma.
Dann zieht sie einen Hebel in der Kanzel ihres Baggers – und binnen Sekunden ist eine Fuhre Kieselsteine mit dem Greifarm beiseite geräumt.
Marc Tornow hat Nepal seit 1994 mehrfach bereist, dort gearbeitet und Sushma für diese Geschichte in dem südasiatischen Land besucht.