Vorspiel: Der EU-Türkei-Deal
Aktuell gehen Bilder durch die Medien von Menschen auf den griechischen Inseln in überfüllten Zeltlagern und Menschen, die von Tränengas und Wasserwerfern attackiert werden. Doch wie konnte es so weit kommen?
Nachdem 2015 und 2016 viele Menschen vor Bürgerkriegen und Terror nach Europa flohen und die Mitgliedsstaaten der EU und die Behörden überfordert reagierten, wollte die EU sich Zeit verschaffen. Deshalb ging sie mit der Türkei einen Deal ein, der zunächst nur einen Übergangsmechanismus darstellen sollte: Die Türkei verpflichtete sich Menschen, die nach Europa wollten, aufzuhalten und außerdem abgeschobene Geflüchtete von den griechischen Inseln aufzunehmen. Menschen, die auf ihrer Flucht über das Mittelmeer auf den griechischen Inseln ankamen, durften nun nicht mehr in Richtung EU-Festland weiterreisen. Für jeden Menschen, den die Türkei von den griechischen Inseln aufnahm, verpflichtete die EU sich im Gegenzug, einen geflüchteten Menschen aus der Türkei aufzunehmen, der Anspruch auf Asyl hatte. Der EU-Türkei-Deal wurde von Nichtregierungsorganisationen wie Pro Asyl und auch von dem Menschenrechtskommissar des Europa-Rats und dem UN-Flüchtlingshochkommissar aufs Schärfste kritisiert. Dennoch hielt die EU daran fest. So gelangten immer weniger Menschen nach Europa und wurden in der Türkei oder auf den griechischen Inseln festgehalten.
Kinder und Jugendliche in den Lagern und an den Grenzen
Die Situation in den Lagern ist prekär. Menschen leben in selbstgebauten Hütten oder Plastikzelten. Auf ca. 250 Menschen kommt eine Dusche und eine Toilette. Gemeinsam mit den schlechten Lebensbedingungen sind auch die Ungewissheit, wie die Zukunft aussehen könnte, und das lange Warten eine enorme psychische Belastung für die Menschen. 34 Prozent der insgesamt 42.000 Schutzsuchenden auf den Inseln sind Jugendliche und Kinder. Weit über die Hälfte von ihnen sind unter 12 Jahre alt. Einige von ihnen sind ohne die Begleitung von Erwachsenen unterwegs. Derzeit leben insgesamt über 5.300 unbegleitete geflüchtete Minderjährige in Griechenland, davon über 1.500 auf den griechischen Inseln. Für sie ist die Lage besonders gefährdend, denn sie müssen sich um ihre Versorgung mit Nahrungsmitteln, um einen sicheren Schlafplatz sowie um die Wahrnehmung ihrer Rechte ganz alleine kümmern und haben in der angespannten Atmosphäre keine Bezugspersonen, die sie stabilisieren, keine Personen, die sie richtig gut kennen und denen sie vertrauen können.
Neben der psychischen Belastung, der die jungen Menschen durch die schlechte Situation in den Lagern und durch traumatisierende Erlebnisse auf der Flucht und in ihren Herkunftsländern ausgesetzt sind, sind auch Krankheiten durch mangelnde Hygiene ein Problem. Vermeidbare Krankheiten breiten sich aus und durch die Kälte und die belastende Situation können selbst ‚kleinere‘ Erkrankungen wie Erkältungen nicht auskuriert werden. Besonders für Kinder, deren ganzer Körper und Immunsystem noch nicht zu Ende entwickelt ist, ist das ein großes Risiko. Es gibt einfach nicht genug sanitäre Anlagen für die Menschen in den Lagern. Das ist besonders für menstruierende Menschen ein großes Problem. Jede Person, die ihre Periode bekommt, weiß, wie unangenehm dies sein kann - und nun stellt euch vor, ihr müsst eure Toilette mit 250 anderen Menschen teilen. Und auf dem Weg zu diesen Sanitäranlagen fühlt ihr euch nicht sicher.
Denn in Krisensituationen verstärkt sich die Gefahr geschlechterbasierter Gewalt. Jede fünfte geflüchtete Frau weltweit hat sexuelle Gewalt erfahren. Das UNHCR schreibt: „Die Erfahrung zeigt, dass sexuelle und geschlechtsspezifische Gewalt vor allem dort ein verbreitetes Phänomen ist, wo die Menschenrechte generell missachtet werden. Sexuelle und geschlechtsspezifische Gewalt ist zweifellos an sich eine Menschenrechtsverletzung. Frauen und Kinder, die dem Risiko, Opfer von Menschenrechtsverstößen zu werden, am häufigsten ausgesetzt sind, zählen gleichzeitig zu jenen, die am stärksten unter sexueller und geschlechtsspezifischer Gewalt zu leiden haben.“ Geschlechtsbasierte Gewalt gegen Frauen und Mädchen, und insbesondere auch LGBTQI*-Personen bleibt oft unsichtbar und ohne Konsequenzen.
Die angespannte Situation wird verschärft durch akute Gewalt, die die Sicherheitslage der Menschen in den Lagern noch verschlechtert. Rechtsextremist*innen gehen gewalttätig gegen Geflüchtete, Helfer*innen und Berichterstattende vor. Gebäude wie ein Zentrum für Ankommende des UNHCR wurden niedergebrannt. Dadurch müssen viele Nichtregierungsorganisationen ihre Angebote einstellen und die Grundversorgung der Menschen bricht zusammen. Ein Mitarbeiter von Ärzte ohne Grenzen, deren Kinderklinik durch die Gewalt geschlossen werden musste, sagte: „Wir haben dort viele neugeborene Kinder, (...) die jetzt überhaupt keine medizinische Versorgung haben, Menschen mit Behinderungen, die sich an niemanden wenden können. Und vor allem die minderjährigen Kinder, die jetzt überhaupt keine Aufsicht haben und jetzt dieser Gewalt vor Ort komplett ausgeliefert sind.“
Kinder haben ein Recht auf Leben, auf Gesundheitsversorgung, auf ein sicheres Aufwachsen, auf Bildung. All dies wird den Kindern an den EU-Außengrenzen verwehrt. Die sicheren Räume, die Kinder brauchen, um mit dem alltäglich Erlebten umzugehen. Die so grundlegende Gesundheitsversorgung. Und die Bildung, die sie brauchen, um eine Perspektive in der Zukunft zu haben und über ihre Rechte Bescheid zu wissen: Nach Angaben des UNHCR sind 10.850 der Minderjährigen auf den griechischen Inseln im schulpflichtigem Alter. Weniger als drei Prozent von ihnen gehen zur Schule, da die Kapazitäten nicht ausreichen.
Was also ist mit den Kinderrechten?
Deutschland plant endlich ausdrücklich im Grundgesetz anzuerkennen, dass Kinder ein besonderes Bedürfnis an Schutz und Förderung haben und deshalb auch besondere Rechte, Kinderrechte eben. Auch wer in die Charta der Grundrechte der EU schaut, liest in Artikel 24: „Kinder haben Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge, die für ihr Wohlergehen notwendig sind. Sie können ihre Meinung frei äußern. Ihre Meinung wird in den Angelegenheiten, die sie betreffen, in einer ihrem Alter und ihrem Reifegrad entsprechenden Weise berücksichtigt. (…) Bei allen Kinder betreffende Maßnahmen öffentlicher Stellen oder privater Einrichtungen muss das Wohl des Kindes eine vorrangige Erwägung sein.“
Kleiner Tipp, liebes Deutschland, liebe EU: Die internationale Kinderrechtskonvention, die ihr offiziell ratifiziert, das heißt zu bindendem Recht gemacht habt, gilt universal. Das heißt, die Kinderrechte hören nicht an euren Grenzen auf und auch nicht dann, wenn es gerade politisch unbequem ist.
In Deutschland haben sich über 140 Städte und Kommunen im Rahmen der Seebrücke-Initiative Sichere Häfen bereit erklärt Geflüchtete aufzunehmen. Viele Jugendhilfeeinrichtungen für minderjährige unbegleitete Geflüchtete stehen leer und könnten schnell Menschen aufnehmen. Doch die Bundesregierung blockiert dies bisher. Auch im Bundestag wurden Anträge der Bundestagsfraktionen Bündnis 90/die Grünen und der Linken zur Aufnahme von besonders schutzbedürftigen Menschen abgelehnt.
EU-Kommissionschefin von der Leyen sagte Griechenland unterdessen Unterstützung durch Ausrüstung und Finanzen im Grenzschutz zu.
Was muss sich ändern?
Uns scheint es, als ob in der erhitzten Debatte vergessen wird, über wen wir hier sprechen. Wir sprechen über Menschen. Wir sprechen über Kinder und Jugendliche, die so alt sind wie wir oder jünger. Junge Menschen mit ihren individuellen Geschichten, mit Träumen für die Zukunft und Ängsten. Junge Menschen, die ihre Familie vermissen, die sie auf der Flucht zurücklassen mussten oder verloren haben. Kinder und Jugendliche, die gerne mal wieder in Ruhe schlafen möchten und von denen viel zu viele, Dinge gesehen und erlebt haben, die kein Mensch und insbesondere kein Kind durchmachen sollte. Kinder und Jugendliche, die überlebt haben - die Strapazen auf der Flucht, die traumatisierenden Ereignisse, die schlechten Bedingungen in den Lagern. Kinder und Jugendliche, die eine unglaubliche Stärke und Resilienz aufweisen und aufweisen müssen, jeden Tag aufs Neue. Junge Menschen, die unsere Zukunft sind. Menschen, die unveräußerliche Rechte haben.
Quellen:
https://www.zeit.de/politik/ausland/2017-02/fluechtlingsabkommen-tuerkei-eu-inhalt
https://www.aerzte-ohne-grenzen.de/griechenland-inseln-fluechtlinge-notlage
https://www.proasyl.de/thema/eu-tuerkei-deal/
http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/19/168/1916838.pdf
https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2020/kw10-de-kommunale-fluechtlingsaufnahme-682654
https://www.bpb.de/gesellschaft/migration/laenderprofile/229957/die-asylpolitik-der-tuerkei
https://www.proasyl.de/news/trotz-nachbesserungen-eu-tuerkei-deal-verstoesst-gegen-fundamentale-menschenrechte/
https://www.unicef.de/informieren/aktuelles/presse/2020/statement-gefluechtete-migrierte-minderjaehrige-griechenland/211948
https://www.unicef.de/informieren/aktuelles/presse/2019/gefluechtete-migrierte-kinder-in-griechenland-gefaerdet/198254
https://www.deutschlandfunk.de/verzweifelt-auf-lesbos-kinder-im-fluechtlingslager.795.de.html?dram:article_id=471440
https://taz.de/Fluechtlingslager-Moria-auf-Lesbos/!5664220/
https://www.unhcr.org/refugeebrief/the-refugee-brief-4-march-2020/
https://www.tagesschau.de/inland/fluechtlingskinder-119.html
https://www.refworld.org/cgi-bin/texis/vtx/rwmain/opendocpdf.pdf?reldoc=y&docid=4fcdf4eb2
https://www.kinderrechte.gv.at/kinderrechtekonvention/kinderrechte-in-der-eu/
https://www.rescue.org/sites/default/files/document/3854/whereisthemoneyfinalfinal.pdf
https://www.rnd.de/politik/neonazis-auf-lesbos-grunen-politiker-startet-online-petition-fur-schutz-von-fluchtlingen-JVKPHV377NBCDBZW5FMMCWIOVQ.html
https://www.spiegel.de/politik/ausland/griechenland-reagiert-auf-fluechtlinge-lesbos-im-ausnahmezustand-a-5146e0ee-8725-4ff2-9a1f-875aab299a6f
https://www.deutschlandfunk.de/fluechtlinge-eu-will-griechenland-mit-geld-und-ausruestung.2932.de.html?drn:news_id=1106990
https://www.rbb24.de/politik/beitrag/2020/02/berlin-fluechtlinge-seebruecke-platz-unbegleitete-minderjaehrige.html
https://www.swr.de/swraktuell/Angriffe-auf-Journalisten-und-Fluechtlinge-Rechte-Schlaegertrupps-auf-Lesbos-Es-flogen-Schlagstoecke,griechenland-schlaeger-100.html
https://www.sueddeutsche.de/politik/fluechtlinge-lesbos-nazis-1.4834596?utm_source=pocket-newtab