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Noch immer fürchten die vom Erdbeben betroffenen Nepalesen weitere Katastrophen.
Noch immer fürchten die vom Erdbeben betroffenen Nepalesen weitere Katastrophen. ©Maike Röttger/Plan
08.07.2015 - von Maike Roettger

Nepal lebt mit der Angst vor dem nächsten Beben

Der Donner, der sich über der nepalesischen Hauptstadt Kathmandu an diesem Morgen entlädt, klingt bedrohlich. Er kündigt den kommenden Monsunregen an – und vielleicht noch mehr.


Nach drei Tagen im Himalaya im Norden des Landes bei den Menschen, die durch die zwei schweren Erdbeben vor dem Nichts stehen, klingt das für mich noch mal erschreckender als sonst. Ich bin voller Eindrücke von den Geschichten der Erdbebenüberlebenden. Von ihrer Verzweiflung darüber, das Haus, die Ernte, das Saatgut, das Vieh und manchmal sogar Verwandte oder Freunde verloren zu haben, von ihrer Angst vor neuen Beben und den Erdrutschen, die der bevorstehende Monsun auslöst. „Das könnte die Katastrophe nach der Katastrophe werden“, sagt mein Kollege Mattias Bryneson, der die Erdbebenhilfe von Plan International in Nepal leitet. „Einige Zelte stehen an sehr gefährlichen Stellen. Straßen können verschüttet werden und das ohnehin schwere Durchkommen zu den Menschen in den abgelegenen Bergdörfern unmöglich machen.“ Eine große Gefahr für Hilfsbedürftige und Helfende gleichermaßen.

Chandra Kumar hat es bei dem zweiten Erdbeben am 12. Mai selbst erlebt. Der Projekt-Manager von Plan saß in der Region Dolakha im Norden des Landes in einer Besprechung mit seinem Team und den Vertretern der Gemeinde als die Erde erneut bebte. Kurz nachdem alle das Haus verlassen hatten, brach es komplett zusammen. Er rettete sich in ein Auto, während die Erdrutsche mit lautem Donner zu Tal stürzten. Menschen schrien und weinten, ihre ohnehin schon vom ersten Beben beschädigten Häuser aus Lehmziegeln brachen zusammen. „Ich verbrachte mit meinem Kollegen die Nacht im Auto ohne die Tür zu öffnen“, sagt er. Am nächsten Tag musste er mit seinem Team mit Hubschraubern ausgeflogen werden. Inzwischen ist er längst zurück in Dolakha. Vor allem mit diesen Erlebnissen im Kopf sieht auch er mit großer Sorge den Monsun kommen.

Für die Nepalesen ist nach ihrer Zeitrechnung das Jahr 2072. Die Weisen des Landes hatten vorhergesagt, dass es ein schreckliches Jahr wird. Die Stärke der Erdbeben in Nepal ist gefürchtet, ähnlich schrecklich war es zuletzt 1934 mit einem Beben der Stärke 8,1. Nun ist tatsächlich eingetreten, was auch Geologen befürchteten. Doch der Glaube sagt auch, die Katastrophe war noch nicht so stark wie vorhergesagt. Die Erdbeben hatten noch nicht wieder die Stärke 8 erreicht. Was kommt also noch? Die Angst der Menschen ist groß. Viele trauen sich noch immer nicht in ihre Häuser zurück, schicken ihre Kinder noch nicht wieder in die provisorisch aufgebauten Schulen.

Wir von Plan International legen deswegen im Land schon jetzt wieder Lager mit dem dringendsten Material an. Krisenteams werden los geschickt, um zu ermitteln, was die Menschen am nötigsten brauchen.

In einem 3000 Meter hoch gelegenen Bergdorf sieht man es deutlich. Vor allem den Frauen, die dort in der großen Mehrheit in großer Hitze an der Ausgabestelle für Reis, Zeltplanen, Öl, Mais, Hygieneartikel und Wasserbehälter anstehen, ist die Verzweiflung ins Gesicht geschrieben. Sie sind oft bis zu einer Stunde durch die steilen Berge, die schon mit gut ausgerüsteten Autos kaum zu bewältigen sind, gelaufen, um ihrer Familie bei der Ausgabestelle das Überleben für die nächsten Monate zu sichern.

Ihre ohnehin schon kargen Vorräte wurden meist unter den Trümmern ihrer Häuser begraben. Die Ernte steht jetzt zwar bevor, doch wie sollen sie dies bewältigen, wenn das Leben buchstäblich auf dem Kopf steht? Auch das Saatgut ist oft verloren, was noch da ist, droht im anstehenden Monsun zu verderben. Viele Frauen müssen mit all dem ohne die Unterstützung ihrer Männer fertig werden, die oft im Ausland arbeiten. Wenn auch noch ihre Ausweispapiere in den Folgen des Erdbebens verloren gingen, dann haben sie es häufig doppelt schwer ohne die Bestätigung des Mannes Zugang zu den Hilfsmaßnahmen der Regierung zu erhalten.

In Malaysia arbeite der Mann von Gitarre. Die 29-Jährige ist mit ihren beiden sieben und 13 Jahre alten Kindern allein, denn bisher ist er nicht zurückgekommen. Doch Gitarre ist froh, dass auf diese Weise die Familie ein Einkommen hat. In ihrem Dorf im Bezirk Sindupalchowk ist kaum ein Haus stehen geblieben. „Hier war mein Zimmer“, sagt sie und zeigt auf den Steinhaufen unter sich. Ihre beiden Kinder hielten sich allein dort auf, während sie im Tal am Fluss zum Fischen war. Als die Erde bebte, sah sie an den Hängen die Staubwolken der zusammenbrechenden Häuser und rannte panisch den Hang hoch – ihre Kinder kamen ihr glücklicherweise entgegen. Es fällt ihr noch immer nicht leicht, sich daran wieder zu erinnern. Das Lachen der Mädchen und Jungen erklingt hingegen schon wieder aus dem Kinderzelt am anderen Ende des Ortes. Hier spielen und singen sie und verarbeiten, was sie erlebt haben.

Pratigya ist erst 17 Jahre alt und hat beide Beben allein mit ihrem 13 Jahre alten Bruder in dem Bergdorf in der Region Dolhaka überstanden. Ihre Eltern wohnen und arbeiten in Kathmandu, alle Verantwortung für das Leben ihres Bruders und ihr eigenes liegt im Moment in ihrer Hand. Die letzten Wochen seit den Beben hat sie damit verbracht, das Haus aufzubauen und die Ernte einzuholen. „Heute konnte ich wieder in die Schule gehen“, sagt sie und strahlt. Am 31. Mai haben die Schulen landesweit geöffnet. Dass sie zunächst in einem provisorischen Gebäude aus Holz untergebracht ist, ist ihr egal. Die Linien in ihrem Heft sind akkurat beschrieben, sie will lernen und in den nächsten Wochen ihre Prüfung nach der 10. Klasse bestehen. 50 Jugendliche drängen sich neben Pratigya auf den Holzbänken in dem kleinen Klassenraum. Anders geht es im Moment nicht. „Viele Eltern haben ihre Kinder auch noch gar nicht geschickt“, sagt der Lehrer Hem Rais Nivauta. „Sie haben noch immer Angst vor Beben und geschlossenen Räumen.“ Doch er ist sicher, dass sie bald wieder Vertrauen fassen werden. Trotz der etwa 45 kleineren Nachbeben pro Tag.

Die Wiedereröffnung der Schulen gibt den Kindern ein wenig Sicherheit zurück. Wir wissen, dass die Gefahr, dass sie nie wieder zur Schule gehen, in Notsituationen mit jeden Tag steigt. 850.000 Kinder könnten davon in Nepal betroffen sein. Schule bietet ihnen zudem einen Schutzraum vor Ausbeutung und Verschleppung. Die Uno schätzt, dass ohnehin jährlich bis zu 15.000 Mädchen und junge Frauen aus dem Land verschleppt werden. Sie enden aus billige Haushaltshilfen oder Prostituierte in den Nachbarländern. Versprechungen von Schleppern, sie würden die Mädchen an erdbebensichere Orte bringen, wo sie zur Schule gehen können, glauben die Eltern gerade jetzt gern zu leichtfertig. „Sie willigen viel zu schnell ein“, sagt Bryneson. Warum auch nein sagen, wenn es die Tochter angeblich besser haben kann als sie.

Meine Kollegen in Nepal haben deswegen eine Aufklärungskampagne gestartet. Überall, wo wir Hilfsgüter ausgeben, gibt es in enger Abstimmung mit den lokalen Kindesschutz-Behörden auch Informationen und Schulungen über diese Gefahr der Verschleppung. Offenbar auch mit Erfolg: Vor kurzem wurde in der Region ein Bus mit 15 Kindern gestoppt, die anscheinend nach Indien gebracht werden sollten. Die Schlepper wurden festgenommen und angeklagt, die Kinder nach Hause gebracht.

Trotz allem erlebe ich Nepalesen, die die Auswirkungen der Naturgewalten mit einer bewundernswerten Gelassenheit und Zuversicht ertragen. Kathmandu wirkt in diesen Tagen sehr leer. Man schätzt, dass etwa einen Millionen Menschen die Stadt verlassen hat, um ihren Familien auf dem Land beizustehen. Ihr Vertrauen in die seit Jahren zerstrittenen und von Korruption umgebenen Regierungen ist nicht groß, deswegen verlassen sie sich am liebsten auf sich selbst. Die Regierung hat für Ende Juni eine Geberkonferenz einberufen – in der Hoffnung, dass die Mächtigen Geldgeber der Welt ihre Verantwortung für das kleine Land im Himalaya zeigen. Doch dafür stehen auch Nepals Regierende auf dem Prüfstand. Die Zeitungen in Kathmandu berichten, dass nun immerhin die Unterzeichnung der Verfassung, die seit Jahren unterschriftsreif auf dem Tisch liegt, unmittelbar bevor steht. So liegt in jeder Katastrophe auch eine Chance.

*Dieser Beitrag erschien am 30.06.2015 im Hamburger Abendblatt